Ästhetische Erziehung zwischen Kulturkritik und Lebensreform
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Die lebensreformerische Frage nach dem „guten Leben“ führte sowohl in der Reformpädagogik als auch schon im Neuhumanismus zu dem Grundmotiv der Notwendigkeit einer Kultivierung der Emotionalität des Menschen durch ästhetische Erziehung. Die Aufspaltung der Erziehung in ein Übergewicht der abstrakt-analytischen Bildung auf der einen Seite, und eine einseitige Ausrichtung auf das Praktische, Ökonomische oder Materielle auf der anderen Seite wurde von den Vertretern des Neuhumanismus und den Reformpädagogen als Defizit erkannt. Schiller und Herder zeigen in ihren Konzeptionen ästhetischer Erziehung um 1800 den Zusammenhang der Kultivierung der Triebkräfte des Menschen mit der moralischen Mündigkeit auf. Angesichts der Greuel der französischen Revolution einerseits und der Despotie der Herrscherhäuser andererseits suchten die Neuhumanisten den Weg zur moralischen und emotionalen Mündigkeit des Menschen über die gleichberechtigte Ausbildung von Sinnestätigkeit und Vernunftkräften. Schiller bevorzugte dabei die deduktiv-spekulative Methode für die Beweisführung, dass der Mensch nur über ästhetische Erziehung zu wahrer menschlicher Reife und Freiheit gelange. Herder argumentierte wahrnehmungspsychologisch, „von unten“, also aus dem Nachvollzug menschlicher Sinnestätigkeit. Beide verbindet trotz divergierender Denkansätze und Methoden die psychologische Einsicht, dass ein abstraktes, den menschlichen Bedürfnissen entgegengesetztes Pflichtbewusstsein die Irrationalität menschlicher Gefühle und Triebe vernachlässigt und damit aus ihnen ein unkalkulierbares Risiko werden lässt. Die einflussreichsten Vertreter musischer Erziehung greifen Anfang bis Mitte des 20. Jahrhundert diesen Gedanken nicht repressiver Erziehung auf. Verschreckt von der ungebremsten Dynamik des industriellen und technischen Fortschritts antworten sie mit der Propagierung der musischen „Heilganzheit“ als Lösung zur Überwindung der Entfremdung des modernen Menschen von seinen Lebensgrundlagen. Die Überbetonung des organischen Gemeinschaftsbegriff in der musischen Bildung zeigt eine problematische Nähe zu totalitär gefärbten Gesellschaftsentwürfen. Dass das dualistische Menschen- und Weltbild der musischen Bildung sowie der Wunsch der Harmonisierung durch Retrospektive in eine Sackgasse führt, haben viele Kritiker und an erster Stelle Th. W. Adorno klar gestellt. Es bleibt die Frage, ob trotz der Unübersichtlichkeit der Postmoderne durch das Ästhetische ein übergreifendes Paradigma für die Pädagogik zu gewinnen sei. Antworten darauf werden an Hand eines Einblicks in die aktuelle bildungstheoretische Diskussion erörtert. Der Umriss aktueller Positionen im Rückbezug auf historische Konzeptionen versteht sich als Anregung zu weiterer, vertiefter Forschung. In einer ebenso fundierten wie spannenden Analyse ist es der Autorin gelungen, einen neuartigen und eigenständigen Einblick in das Selbstverständnis der ästhetischen Erziehung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute zu vermitteln.