Thurneysen - neu gesehen
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Das Werk Eduard Thurneysens ist ohne sein Leben nicht zu verstehen. Der I. Weltkrieg zerbricht seine religiös-soziale Fortschrittshoffnung und zerstört alle theologischen Gewissheiten. Aus dieser Erschütterung heraus entwickelt er zusammen mit Karl Barth ein neues Selbst-, Welt- und Gottesverständnis – die „Dialektische Theologie“. Im Mittelpunkt der neuen Theologie steht die Krise. Thurneysen liefert sich ihr rückhaltlos aus. Als einzigen Gegenstand der Theologie lässt er das existentialistische Ringen um neuen Respekt vor Gott gelten. Aus dieser Bewegung heraus entsteht der erste große Aufsatz: „Die Aufgabe der Predigt“. Predigt soll nicht mehr erbauen, sondern einreißen. Wie ein expressionistisches Kunstwerk soll sie die Erwartung der Zuhörer enttäuschen und entsetzen. Angst und Fremdheit sind die beherrschenden Themen dieser Zeit. In den Romanfiguren Dostojewskis erlebt Thurneysen seine persönliche Abgründigkeit in apokalyptischer Intensität. Ihre Bewegung durch den Tod hindurch zu neuem Leben wird zum Paradigma seiner neuen Seelsorge. Tod und Schmerz verlieren ihren ängstigenden Charakter. Die Hinwendung zum leidenden Menschen wird zum Akt der Anerkennung, dass alles Leben ein Sehnen und Suchen nach Gott ist. Thurneysens neue Seelsorge folgt keinem festgelegten Praxisweg. Ihr vordringliches Anliegen ist eine neue Wahrnehmung. Dieses „Neue Sehen“ soll den Menschen helfen, in die Perspektive Gottes einzutreten und sie dazu anleiten, sich selbst und ihr Gegenüber im Licht der Vergebung zu sehen. Unter dieser Prämisse setzt er sich mit seiner religiös-sozialen Prägung auseinander, erarbeitet ein neues Offenbarungsverständnis, macht Vorschläge zum Konfirmandenunterricht, untersucht sein Verhältnis zu Christoph Blumhardt und entwirft eine neue Gestalt von Kirche. Thurneysens Veröffentlichungen wollen nicht intellektuell verstanden, sondern wie Kunstwerke erfahren werden. Sie bedürfen der unmittelbaren Rückbindung an seine persönliche Entwicklung. So erscheint die berühmt-berüchtigte Forderung aus „Rechtfertigung und Seelsorge“, dass sich alle Seelsorge aus der Verkündigung herleiten muss, in völlig neuem Licht. Verkündigende Seelsorge zielt nicht darauf ab, dogmatische Formeln noch einmal unter vier Augen zu wiederholen, sondern sie will zu einem neuen Sehen und Verstehen des Menschen von Gott hinführen.