Die Zeit des Biedermeier bietet eine Vielzahl an Reaktionsmöglichkeiten, die sowohl Fluch als auch Segen sind. Besonders die Gattung des Freundschafts- und Glückwunschbillets entfaltet eine generationsübergreifende Sogwirkung, die schwer zu widerstehen ist. Die gelungene Kombination von Schrift und Bild, die Verschmelzung von Kunsthandwerk und Kunstwerk sowie die Interaktion zwischen Objekt und Betrachter fesseln auch heute noch. Eine Prise Witz verstärkt die emotionale Bindung im Rezeptionsrahmen. Diese Aspekte zeigen sich in aktuellen Kunsttendenzen, die oft handwerkliche Brillanz und humorvolle Elemente betonen. Die Billets sind faszinierend, weil sie ein zentrales gesellschaftliches Problem aufzeigen: zwischenmenschliche Beziehungen, die stets komplex und herausfordernd sind. Jede Epoche hat ihre eigenen Lösungsvorschläge, doch die Grundproblematik bleibt konstant. Die Biedermeierbillets sind Zeitzeugen, die durch ihre Eleganz und verspielte Ausschweifung bestechen, während sie gleichzeitig eine zeitlose Botschaft transportieren. Man kann ihnen als historische Objekte begegnen oder als ahistorische, deren grundlegende Funktion unverändert bleibt. Ihre Nutzung und Interaktion in der heutigen Zeit zeigt, dass sie keine Relikte einer nicht-digitalen Welt sind, sondern weiterhin relevant und ansprechend.
Ulrich Pfarr Bücher


Kaum ein bildhauerisches Œuvre vermag so zu frappieren und immer neue Aktualität zu gewinnen wie das des Franz Xaver Messerschmidt. Mit seinem Schaffen wandte er sich radikal von den Erwartungen des Umfelds ab, in dem er soeben noch glänzend Karriere gemacht hatte: Nicht die Aufträge des Wiener Kaiserhofs, sondern eine Serie teils bizarr grimassierender Büsten sichert seinen Ruhm. Sind dies Werke ohne Inneres, oder sind in sie Charakterzüge und im Selbstversuch erfasste Affektbewegungen eingeprägt? Vom Exempel für die Physiognomik Lavaters über die 'Kunst der Geisteskranken' bis zum freien Markt – Messerschmidt wurde stets für kontroverse Themen vereinnahmt. Den Schlüssel zu dieser Rezeptionsgeschichte liefert die innovative Untersuchung seiner 'Köpfe' mit Hilfe eines Messsystems der klinischen Psychologie, dessen Vorgeschichte in die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts reicht. Erstmals werden die Begegnungen Messerschmidts mit dem Wunderarzt Mesmer und dem Rationalisten Nicolai kritisch analysiert. Leben und Werk des Künstlers spiegeln eine Verschiebung der Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, 'Geisterseherei' und Vernunft im Diskurs der Aufklärung wider.