Fabian Scherrer entwirft ein Psychogramm einer Gesellschaft, in der die Political Correctness und der Tanz ums Goldene Kalb des Neoliberalismus den Alltag, die Öffentlichkeit und die Gedanken beherrschen. Mit Verve und satirischem Biss liefert Scherrer ein Porträt Deutschlands und seiner Hauptstadt, wie er es als Schweizer seit seinem Umzug nach Berlin erlebte. Den nördlichen Nachbarn hält der Eidgenosse einen Spiegel vor, in dem Liebenswürdigkeiten und Verschrobenheiten ebenso hervortreten wie die unbewältigten deutschen Traumata der NS-Vergangenheit und der Teilung in Ost und West. Auf seinen Streifzügen durch die Nachtseite der Berliner Republik ortet er auch das bemerkenswert naive Verhältnis vieler Deutscher zu Einwanderern und ihren archaischen Kulturen, welches ohne die Erfahrungen der jüngeren Geschichte nicht zu verstehen ist. In den Katakomben des deutschen Unbewussten begegnen dem Autor Bewohnerinnen und Bewohner, die zwischen Minderwertigkeits- und Selbstüberhebungsgefühlen hin- und hergerissen sind und ihren Platz in Europa noch nicht gefunden haben. „Die Deutschen sind ziemlich verrückt, nicht böse, aber verrückt; darüber sind sich Ausländer in Deutschland bisweilen schnell einig. Denn wie fühlt sich dieses öffentliche Deutschland, welches so gern über Ausländer streitet, als Gastgeberin tatsächlich an? Stellen sie sich einmal vor, sie würden mit einer unter frühkindlich bedingtem Hygienezwang leidenden, sich nur mit der eigenen tragischen Jugend beschäftigenden jungen Frau zusammenwohnen. Sie ist davon besessen, einen schlechten Charakter zu haben und versucht ihren Mangel an Selbstwertgefühl mit moralischem Fleiß wieder wettzumachen. Und sie hat Redebedarf und Sendungsbewusstsein: Weil sie überzeugt ist, in ihrem kurzen Leben bereits alles falsch gemacht zu haben, so wie noch nie jemand alles falsch gemacht hat, glaubt sie auch, allen über alles Ratschläge erteilen zu können. Dabei kann sie ihren Untermietern gegenüber von säuselndem Wohlwollen sein oder höchst indigniert, wenn gegen ihre Hygienevorschriften verstoßen wird. So schreckhaft und empfindsam wie sie ist, verlässt sie nie das Haus, weil es ihr draußen zu real sei. Eigentlich möchte sie nur beweisen, eine gute Gastgeberin zu sein. Denn ihre Großeltern haben mit einem vom österreichischen Koch vergifteten Gericht eine ganze Abendgesellschaft dahingerafft; ein Trauma, welchem sowohl ihr moralischer Eifer sowie ihr Hygienefimmel die extreme Ausprägung verdanken.“
Fabian Scherrer Bücher


Leuchtende Tage
- 272 Seiten
- 10 Lesestunden
Auf dem Landsitz vor den Toren Solothurns wurde bis in die 1970er-Jahre das feudale Leben des 18. Jahrhunderts aufrechterhalten. Anhand der verschwundenen Lebensgemeinschaft von Schloss Waldegg (heute Begegnungszentrum des Kantons Solothurn) wird ein Stück Schweizer Sozialgeschichte dokumentiert. Das Schicksal der letzten Bewohner des Schlosses und das der Angestellten ist auch die Geschichte einer zunehmenden anachronistischen Gesellschaftsinsel, umgeben von grünen Wiesen, doch bedroht von der städtischen Siedlungsentwicklung. Das reich illustrierte Buch schlägt einen Bogen über die Lebensspanne der Protagonisten von 1880 bis 1990. Daraus entsteht ein atmosphärisches Sittenbild eines schweizerisch-kleinstädtischen Milieus, das mit Haltung und Sparsamkeit das aristokratische Erbe der Ahnen bewahren wollte.