Eine Vielzahl von Blättern, von Mäusen angenagt, nie auf- genommen in die literarische Biographie des Autors. Als im Sommer 2009 ein großer Koffer vom Pfarrhof in Rothberg/ Roşia in das nahe Hermannstadt/Sibiu gebracht wurde, konnte über dessen Inhalt allenfalls gemutmaßt werden. Im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, wo die Dokumente aus dem Koffer in den Vorlass Eginald Schlattners eingepflegt werden sollten, erkannte man verblüfft, dass es sich um Manuskripte aus einer bis dahin praktisch un- bekannten Schaffensperiode Eginald Schlattners handelte. Eginald Schlattner ist heute vor allem als Romanautor be- kannt. Mein Nachbar, der König und Odem beinhalten eine Auswahl seiner früheren Erzählungen. Diese zeigen, welches bewegte Schicksal dem Autor und seiner Literatur zuteil gewor- den ist, welchen Einfluss Verlage und Lektorat hatten, wie Maß- regelungen das Schreiben behinderten und wie er versucht hat, sich in das literarische Leben seiner Zeit zurückzuschreiben. Es zeigt sich aber auch, dass es eine über zwanzig Jahre andau- ernde Zäsur in der schriftstellerischen Tätigkeit Schlattners gab. Eine Zeit des literarischen Schweigens bis in die 1990er Jahre hinein – bevor er der bekannte Romanautor mit dem markan- ten roten Schal wurde.
Ein Erinnerungsroman von erzählerischer Kraft Ein Fest wird gefeiert in Fogarasch, einer kleinen Stadt im Herzen von Siebenbürgen. Die Freunde des 16jährigen Ich-Erzählers treffen sich im Haus seiner Eltern zum Tanztee. Es soll ein Fest werden zum Schulschluß, es wird ein Abschied für immer. Denn an jenem 23. August 1944 wechselt das mit Hitler verbündete Rumänien die Fronten und schließt sich den Alliierten an. Das jahrhundertelange kultivierte Zusammenleben von Rumänen, Ungarn und Deutschen findet ein Ende. Eginald Schlattners wunderbarer Roman läßt eine den Gefahren trotzende Welt auferstehen - heiter und melancholisch, reich an Details und feiner Ironie, changierend zwischen Realem und Irrealem, aufgezeichnet im Ton zauberhafter Sinnlichkeit.
Durch die Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg hat die als „bourgeois“ verfemte Familie des jungen Fabrikantensohns Clemens aus Schäßburg/Sighisoara in Siebenbürgen alles verloren: Der Vater ist im Gefängnis, die Mutter verschollen, Clemens arbeitet in einer Porzellanfabrik und besucht die Abendschule. Als er der Rumänin Rodica begegnet, sprengt die Liebe alle Grenzen. Doch findet er aus seiner sächsischen Bürgerlichkeit oder siegt die Tradition über das Gefühl? Mit seinem vielschichtigen Roman überzeugt Eginald Schlattner aufs Neue als Erzähler von „fontanescher Reife“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Verhaftet, verhört, verurteilt. »Ein ganz und gar ungewöhnliches Buch ... Kein in diesem Teil Rumäniens geschriebenes Buch hat bisher so offen und frei von Ressentiments die dortige Nachkriegsgeschichte dargestellt wie die beiden Romane Eginald Schlattners.« Nicole Henneberg in der ›Frankfurter Rundschau‹ Der Ich-Erzähler, Mitte Zwanzig, Student der Hydrologie an der Universität Klausenburg, gerät in die Fänge der rumänischen Staatsmacht. Er wird der Konspiration gegen das kommunistische Regime verdächtigt, Ende Dezember 1957 von der Securitate verhaftet, ins Gefängnis nach Kronstadt gebracht, monatelang verhört, unter Druck gesetzt, seelisch und körperlich mißhandelt und gefoltert. Ein verzweifelter Kampf um Integrität beginnt. Nach dem Debüt-Roman ›Der geköpfte Hahn‹ über seine Kindheit in Siebenbürgen zeichnet Eginald Schlattner im vorliegenden Roman die Tragödie eines jungen Menschen nach, der sich auf der falschen Seite wiederfindet. »Schlattner setzt sich mit dem eigenen Fall auf eine radikal schonungslose Weise auseinander ... sinnlich, bildhaft und deutlich zugleich, ein Meister der Charakterstudie, der bei allem bitteren Ernst einen Sinn fürs Komische und Merkwürdige, für das Ironische des Schicksals hat.« (Daniela Strigl im ›Standard‹)
Das Buch dokumentiert ein Interview mit Eginald Schlattner, das 2017 in Rumänien geführt wurde. Es thematisiert die heutige Bedeutung der Religion, die Beziehungen zwischen den Konfessionen und die Rolle der Sprache für den Fortbestand des Glaubens. Schlattner betont, dass seine Lehren auch nach dem Verschwinden der Siebenbürger Sachsen bestehen bleiben werden.
In diesem Gedächtnisroman reflektiert der Autor über verlorene Menschen und die schmerzhaften Erinnerungen an sie. Er verbindet Biografie mit Fiktion und hinterfragt die Grenzen zwischen Realität und Erinnerung. Eine scheinbar einfache Fahrt wird zum Symbol für den Verlust und das Verweben von Vergangenheit und Gegenwart.
Im äußersten Winkel des Obstgartens lag ein Wasserloch, das nie austrocknete, dessen Gewässer nicht überflossen. Der Großvater nannte es „blinden Brunnen“, der Vater „Tümpel“, die Mutter mit leisem Zungenschlag „Weiher“. Für uns Buben war es das Brunnentor in rätselhafte Gründe. Mein kleiner Bruder hatte den Namen ausgebrütet: Brunnentor. Jener runde Teich war beschirmt von Erlen und Eschen. Und war umrahmt von Dotterblumen. Von denen die Bardócz néni behauptete, sie schützten vor Gespenstern und Kobolden. Vielleicht wären sie sogar nützlich gegen Hexen. Dabei schmeckten sie nur bitter. Früheste Erinnerungen, die herbeigaukeln und geschuldet sind dem vergrübelten Spürsinn eines Buben. Mir. Der ich noch nicht lesen und schreiben konnte. Doch bereits Ungarisch sprach, damals, dort, als wir wenige Jahre im Szeklerland lebten, in Szentkeresztbánya. Vermutlich war es so, wie ich es niederschreibe. Doch denkbar: einiges anders. Aus den zerfransten Bildern der Vergangenheit schälen sich Begebenheiten, die Profil und Kontur begehren als das Erzählbare. Das alles, so und anders, war überdacht von einer Zeit, die den Jahren viel „Unordnung und frühes Leid“ bescherte, damals am Brunnentor der Kindheit … Eginald Schlattners Romane, die in ihrer Gesamtheit nahezu ein Jahrhundertpanorama der deutschen Ethnie in Rumänien aufrollen, sind – ausgenommen Das Klavier im Nebel – alle autofiktional gehalten. So auch das vorliegende Buch mit dem änigmatischen Titel Brunnentore. Hier verhandelt der Autor seine Kindheit, die er im Vorschulalter in einer ungarisch geprägten Region von Siebenbürgen, im sogenannten Szeklerland, verbracht hat, wo viele Weichen für sein späteres Welt- und Menschenbild gestellt wurden. Eltern, Großfamilie und Freunde, Verwandte und Nachbarn, Arbeiter und Beamte der lokalen Eisenwerke, Dienstboten, Gassenjungen und angehimmelte Mädchen sowie vor allem der zweieinhalb Jahre jüngere Bruder Kurtfelix bevölkern und beleben den bunten Alltag, den der Autor anhand von Erinnerungen und Familienfotos nachzeichnet und literarisch gestaltet. Bestechend ist dabei die kindliche Optik des Ich-Erzählers, der nicht nur sein unmittelbares Umfeld in Szentkeresztbánya oder zu Besuch bei den Großeltern in Hermannstadt beziehungsweise auf Sommerfrische bei den Großtanten in Freck, sondern letztlich auch die historischen Brüche und Umbrüche jener Zeit anders wahrnimmt als die Erwachsenen, etwa wenn es um die staatliche Zugehörigkeit Transsilvaniens oder den aufkommenden Nationalsozialismus geht, und mit seinen naiven Beobachtungen und Fragen das politische Geschehen ad absurdum führt. Zeitlich nämlich fällt die Handlung in die späten 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und endet mit dem Wiener Schiedsspruch 1940, als Nordsiebenbürgen von dem Territorium des Königreichs Rumänien abgetrennt und Reichsungarn angegliedert wurde und die Eltern, die für Rumänien optiert hatten, mit den Kindern nach Kronstadt in Südsiebenbürgen zogen. Damit schließt Brunnentore die letzte autofiktionale „Lücke“, da Eginald Schlattner – nach den Romanen Der geköpfte Hahn, Rote Handschuhe, Wasserzeichen, Drachenköpfe und Schattenspiele toter Mädchen – nun laut eigenem Bekunden seine komplette Vita in Prosa gegossen und literarisch abgeschlossen hat.
Von Nonnen und Narren, Ikonen und Namen – eine siebenbürgische Bilderwand, durchscheinend wie Wasserzeichen. Sigrid Löffler äußerte 2001 beim Poetenfest in Erlangen: „Offensichtlich ist die Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu Ende. Aber dieses Ende ist in den Romanen von Eginald Schlatter exemplarisch aufgehoben, im Hegel’schen Sinne.“ Denis Scheck in einem Brief, Dezember 2016: „... nach dem, was ich von Eginald Schlattner kenne, darf man von Weltliteratur sprechen.“ Der Verfasser selbst befindet: „Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab. Sondern dass ich Pfarrer bin, als Erstes und als Letztes und manchmal durch und durch. Somit der Imperativ: Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen.“
Editorische Grundlage der vorliegenden Ausgabe ist das Manuskript von Eginald Schlattners Odem, das von Erika Constantinescu, Lektorin der deutschen Redaktion der ESPLA, im November 1957 korrigiert und mit Anmerkungen versehen wurde. Die Erzählung erschien nicht, weil der Autor einen Monat später von der Securitate verhaftet wurde. Größtmögliche Authentizität war das Ziel der Herausgeberin Michaela Nowotnick, die diese frühe Erzählung des siebenbürgischen Autors und Pfarrers entdeckt und bearbeitet hat. Der Leser sei gewarnt: Simple Lesbarkeit war nicht unbedingt eines der primären Ziele der Edition.