»Die betäubenden Zahlen von den Greueltaten und der Vernichtung«, hat Hanna Krall einmal gesagt, »tragen mehr zur Gleichgültigkeit als zur Erinnerung bei. Niemand kann sich bei dem Wort eine Million etwas anderes als Zahlen vorstellen. Damit wird eine Art statistischer Seelenzustand erzielt, die Empfindsamkeit abgestumpft. Dabei wissen wir, dass jeder Mensch allein stirbt, und nur einmal.« Aus dieser Sichtweise heraus hat die polnische Autorin Hanna Krall ihre für sie so charakteristische Schreibweise entwickelt. Auch der Erzählband »Existenzbeweise« hat Einzelschicksale polnischer Juden zum Thema. Zugleich einfühlsam und distanziert, hartnäckig und abwartend entlockt Hanna Krall ihren Figuren verschlungene Biographien mit Brüchen und unbeantworteten Fragen. Den Protagonisten der Erzählungen ist die Suche nach ihrer Identität gemein: sie entdecken nach Jahren, dass sie Juden sind; sie geben vor, jüdisch zu sein und sind es nicht; sie glauben sich jüdisch, können es aber nicht belegen. Die Wahrheit in sich tragend, ohne sie zu kennen, suchen sie, ihre Existenz zu beweisen.
Hanna Krall Bücher
Das Werk dieser Autorin setzt sich tiefgründig mit den Themen des Holocaust und dem Schicksal der polnischen Juden auseinander, Themen, die sie persönlich während des Zweiten Weltkriegs tiefgreifend beeinflussten. Ihr Stil zeichnet sich durch einen eindringlichen journalistischen Ansatz und die Fähigkeit aus, komplexe menschliche Schicksale einzufangen. Durch Interviews und dokumentarische Zeugnisse deckt sie die Tiefen menschlichen Leidens und menschlicher Widerstandsfähigkeit auf. Ihre Schriften werden für ihre Ehrlichkeit und literarische Kraft gelobt.







Als Anfang der achtziger Jahre die politische Situation in Polen in der Ausrufung des Kriegszustands kulminiert, legt die renommierte Journalistin aus Protest ihre Arbeit nieder. Aus der Not des Publikumsverbots macht Hanna Krall eine Tugend: sie wendet sich vom Tagesgeschehen ab und jüdischen Themen zu. Ihr Stil wird zunehmend literarisch und vereint in seiner Dichte aufwühlendes Erzählen mit lakonischer Beschreibung. Präzise Beobachtung und das Wissen um die gekonnte Verknüpfung der Schicksalsfäden bestimmen die obsessive Spurensuche. Ihr souveräner Zugriff auf die Fakten und das begründete Vertrauen, dass diese für sich selbst sprechen, bestimmen Hanna Kralls Geschichten, deren Kunst in der Aussparung, im Nichtgesagten liegt, denn »man muss soviel es geht über die Menschen erfahren und dann möglichst wenig schreiben«. Der Band »Hypnose« ist eine Bestandsaufnahme dieser Entwicklung. Im Zentrum dieser Erzählungen von Hanna Krall stehen Menschen, die dem Holocaust zum Opfer fielen oder ihn überlebten. Die Geschichten erzählen alle davon, wie gegenwärtig die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch sind. Und sie handeln von den ewigen Dingen des Lebens: Angst, Liebe, Eifersucht und Tod, für die Polen, Kanada, Israel und Deutschland nur die Kulissen sind.
Da ist kein Fluss mehr
- 180 Seiten
- 7 Lesestunden
»Erzählen Sie mir was«, »Erzählen Sie mir eine Geschichte«, mit diesen Worten beendet Hanna Krall fast jede ihrer Lesungen. Göteborg, Tykocin, New York, Warschau oder Hamburg sind die Orte, von denen aus die Autorin schreibt. Sie erzählt von Abram Kapica, der den Krieg überlebte, weil sein Vater ihn nach Hause schickte, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei; von der vergeblichen Liebe des polnischen Dienstmädchens Alicja zu ihrem jüdischen Hausherrn; von dem Kurden auf dem Berg Nimrud, dem künftigen Wächter der galizischen Juden; von Krzysztof Kieslowski, dem es wichtig ist, auf der Seite der Traurigen zu stehen. Alle ihre Geschichten handeln vom DANACH. Knapp und poetisch verbindet Hanna Krall Einzelschicksale mit historischen Ereignissen und biblischen Motiven. Und so nimmt es nicht wunder, dass neben der Jungfrau von Wlodzimierz von Feldmarschall Rommel, neben dem Don Juan des Otwocker Proletariats von Rabbi Besser aus New York die Rede ist. »Ich versuche nicht, die Geheimnisse der Überlebenden zu ergründen«, hat dieser gesagt, und Hanna Krall ist mit ihm eins. Doch sie erzählt von diesen Menschen, und auch wenn sich das, was sie überliefert, wirklich zugetragen hat, sind ihre Geschichten doch keineswegs Tatsachenberichte, sondern universelle Gleichnisse.
Tanz auf fremder Hochzeit
- 219 Seiten
- 8 Lesestunden
»Kinder, ihr tanzt auf einer fremden Hochzeit«, entfährt es einer jüdischen Mutter in der Titelgeschichte mit einem tiefen Seufzer angesichts der kommunistischen Aktivitäten ihrer Tochter. Den Erzählungen von Hanna Krall liegt stets ein authentischer Kern zugrunde, und die Recherchen nach dem Schicksal polnischer Juden haben sie in viele Länder geführt. Immer betrachtet Hanna Krall die Welt durch ein Einzelschicksal, das für sie den Schlüssel zum Kosmos darstellt: jemandes Liebe, Tod und Verstrickung, ein nächster Henker und ein neues Opfer. Aufgrund historischer Ereignisse verlief das Leben der Protagonisten ihrer neuen Geschichten anders als geplant. Inwieweit darin eine Ordnung zu sehen ist, eine blutige und erbarmungslose oder gar eine biblische, bleibt Hanna Kralls literarisches Geheimnis. Zu den Erzählungen: Sechs Wehrmachtsoffiziere (unter ihnen Axel von dem Bussche und Richard von Weizsäcker) schießen 1943 vor Leningrad auf ein Hitlerporträt; in ein osteuropäisches Städtchen ist der Kapitalismus eingekehrt, doch statt des sehnlich erwarteten Sponsors tauchen die Schatten der Vergangenheit auf; 1944, eine Frau täuscht eine Schwangerschaft vor, während sich die tatsächlich Schwangere, eine Jüdin, im Schrank verstecken muss.
Diese nüchterne Feststellung stammt von Izolda Regensberg alias Maria Pawlicka. Seit der Deportation ihres Mannes nach Auschwitz besteht der Sinn ihres Lebens allein darin, ihren Herzkönig zu befreien. Die fieberhaften Bemühungen werden von Absurditäten und Zufällen, von glücklichen und unglücklichen Fügungen begleitet. In Zeiten der Vernichtung wundert sich Izolda über keine Grausamkeit - auch nicht über die eigene. Bis Izolda schließlich im Mai 1945 im Lager Ebensee auf ihren Ehemann trifft, hat sie eine Odyssee von Lagern und Gefängnissen hinter sich. Das Paar kehrt mit »polnischen« Pässen nach Polen zurück. Jahre später fliegt die geborgte Identität auf, und die beiden erhalten jüdische Pässe, die sie zur Ausreise nach Wien zwingen. Izolda, die hervorragende Spezialistin im Überleben, muss erkennen, dass sie das Leben nach dem Überleben nicht in den Griff bekommt. Sie empfindet zunehmend Fremdheit gegenüber der Welt, deren Fixpunkt ihr verloren gegangen ist. Sie zieht zu den Töchtern nach Israel. Umgeben von alltäglichen politischen Ausnahmezuständen und unverständlichen Wortfetzen lebt sie in ihrer Erinnerung noch im Zweiten Weltkrieg. »Herzkönig« handelt vom Schicksal polnischer Juden - jener, die durch den Holocaust umkamen, und jener, die ihn mit Verletzungen unterschiedlichster Art überlebten. Erschütternde historische Situationen korrespondieren mit persönlichen Katastrophen. Und für jede findet die Autorin knappe Sätze, die beim Leser einen tiefen Schrecken hinterlassen. So einfach und zugleich poetisch schreibt nur Hanna Krall.
Sie beschäftigt sich mit Marek Edelman in zweifacher Weise: Marek Edelman, der stellvertretende Kommandant des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943, wird mit Marek Edelman, dem heutigen bekannten Kardiologen und Herzchirurgen, konfrontiert. Das Resultat dieser Konfrontation: Wenn sich auch die historische Abfolge lediglich als "Reihenfolge des Sterbens" erweist, so kommt es für den einzelnen darauf an, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, schneller zu sein als der liebe Gott.
Hanna Krall beschreibt ihr Buch als Abschluss eines Zyklus über die Verflechtung jüdischer, polnischer und deutscher Schicksale im Krieg. Die fragmentarische Erzählweise spiegelt das Gedächtnis der Überlebenden wider und lässt leere Stellen, die der Leser aushalten muss. Es kann auch als bewegendes Tagebuch der Autorin gelesen werden.
In der seinerzeit von dieser Bewegung gegründeten Zeitung "Gazeta Wyborcza" veröffentlichte sie jahrzehntelang. Mit "Dem Herrgott zuvorkommen", einer literarischen Reportage über Marek Edelman und den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und dem 1985 in einem Pariser Exilverlag erschienenen autobiographischen Roman "Die Untermieterin" hatte die Autorin ihr Thema gefunden: das Aufspüren von vergangenem jüdischen Lebens in Polen. Hanna Krall arbeitet seit 1979 auch für Theater und Film. In den 90er Jahren nahm sie Stipendien in Berlin und in Iowa wahr. Sie lebt heute als freie Autorin in Warschau. Ihre Werke wurden in siebzehn Sprachen übersetzt. Hanna Krall hat zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten - in Deutschland zuletzt den achten Würth-Preis für Europäische Literatur 2012.