Gewaltmigration, Globalisierung und Geschichtsregion(en) in europäischer Perspektive. Aufsätze und Essays 2015-2021
Forced Migration, Globalization and Historical Meso-Region(s) in European Perspective. Articles and Essays, 2015-2021






Forced Migration, Globalization and Historical Meso-Region(s) in European Perspective. Articles and Essays, 2015-2021
Anhang: „On Trying to be a Historian of Eastern Europe“. Eine migrationslastige Zwischenbilanz
Andreas Lawaty, dem Grenzgänger und Freund, zum 65. Geburtstag
Am 10. März 1953 in Beuthen/O.S. geboren, empfing Andreas Lawaty als Sohn einer deutschen, polnisch assimilierten Pastorenfamilie (er wuchs mit Polnisch als erster Sprache auf) die polnische Schulsozialisation. In eben jener Zeit sind die Keime seiner späteren beruflichen Polen-Faszinationen zu suchen. Die geistige Atmosphäre des Hauses blieb zweifelsfrei nicht ohne Einfluss auf sein intellektuelles Profil - man denke an die Rolle der Institution des Pastorenhauses in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte generell. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit die baldige Übersiedlung der Familie nach Podkowa Lesna bei Warschau (wo der Vater, Erwin Lawaty, Rektor und Professor in einem protestantischen Priesterseminar war) durch die Nähe zu Stawisko, dem benachbarten Landsitz des Grandseigneurs der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts Jaroslaw Iwaszkiewicz, atmosphärisch seine Sensibilität für die polnische Literatur geprägt haben mag. Über den Zaun blickend, konnte der Junge auf dem Schulweg dem dortigen Treiben jedoch zugucken, was im Scherz gesagt ist, aber Tatsache bleibt, dass Andreas Lawaty nach Jahren den Iwaszkiewicz-Band Die Fräulein von Wilko (1985) für die "Polnische Bibliothek" redaktionell betreute und im dem Dichter gewidmeten Nachwort ihn den "Europäer" nannte, als welchen er sich selbst am liebsten apostrophiert. Das geistige und menschliche Profil unseres Freundes Andreas Lawaty ist das eines Menschen, dem Dialog ein natürliches Bedürfnis und Empathie die Art und Weise ist, auf den anderen Menschen zuzugehen. Derlei Eigenschaften charakterisieren oft in besonderem Maße Menschen, die aus kulturellen, sprachlichen, nationalen Grenzräumen stammen. Im Vorwort zu seinem polnischen Essayband Intellektuelle Visionen und Revisionen in der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen des 18. bis 21. Jahrhunderts (Kraków 2015) schreibt er denn auch, dass es wohl kein Zufall gewesen sein dürfte, dass er die Helden seiner Reflexionen "in den kulturellen Grenzräumen suchte, denen sie entweder durch ihre Herkunft, Lebenserfahrung oder aber durch ihre intellektuelle Neugier angehörten". Und der Autor fügt bezeichnenderweise hinzu, dass er sich aber nicht so sehr für deren Biografien interessiere, sondern für den aus diesen Biografien resultierenden intellektuellen Habitus. Denn der sei "für das bessere Verständnis des Charakters der polnisch-deutschen intellektuellen Kommunikation wichtig". Dies zu fördern und zu unterstützen liegt Andreas Lawatny, ganz im Rorty'schen Sinne, nach wie vor besonders am Herzen. Die Autoren der vorliegenden Festschrift stammen aus Polen, Deutschland, den USA, Österreich und der Schweiz, und es befinden sich unter ihnen, alt und jung, gens de lettres verschiedenster Couleur: Lyriker, Romanciers, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Historiker, Archivare, was den Wirkungsradius des Jubilars und die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, des Grenzgängers par excellence, beredt demonstriert. Seinen Expeditionen folgen wir neugierig, sind gespannt auf unerwartete Entdeckungen, und dabei sicher, dass der Freund Andreas sein immenses Wissen aus den Grenzgängen mit der Souveränität des kundigen Forschers weitergeben wird. Dass diese Wissenssicherheit bei ihm niemals in anmaßende Überlegenheit umschlägt, hängt mit einem schönen Zug seines Wesens zusammen: Er kann immer aufmerksam und einfühlsam zuhören und bleibt einer, der das Lernen nie aufgibt. (aus dem Geleitwort der Herausgeber)
Das östliche Europa und seine Ränder. Aufsätze, Essays und Vorträge 1983–2016
Im Rahmen von Weltgeschichtsschreibung, Transnationalisierungsforschung und „neuen“ Area Studies steht die Osteuropäische Geschichte im deutschsprachigen Raum vor einem Legitimationszwang und wird gleichzeitig als paradigmatischer Prototyp von global orientierten Forschungsrichtungen entdeckt. In Bezug auf Konzepte wie „Eurasien“, „zweiter Welt“ oder „nördliche Hemisphäre“ wird das Erkenntnispotential der etablierten Osteuropaforschung, die sich auf Ostmitteleuropa, Südosteuropa, Nordosteuropa, den ostslavischen Raum sowie den Kaukasus und Zentralasien konzentriert, sowohl erkannt als auch genutzt. Insbesondere die entwickelte Konzeption der Geschichtsregion hat nicht nur Einfluss auf Europahistoriker, sondern wird auch von anderen Disziplinen wie historischer Soziologie, Zivilisationsgeschichtsschreibung, Kunstgeschichte, Literaturgeschichte und Anthropogeographie kreativ adaptiert. Der Band belegt die Relevanz der geschichtsregionalen Konzeption „östliches Europa“ und deren Untergliederungen im intraregionalen Kontext sowie deren Entstehung durch die Interaktion mit angrenzenden historischen Meso-Regionen.
Ausgabe 2016/1 der Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung „Comparativ“
Ostmitteleuropa in Europa
Der memory boom, die kulturalistische Wende und der spatial turn haben der historischen Forschung zum östlichen Europa etliche innovative Impulse gegeben. Ihrerseits hat auch die Osteuropahistoriographie der Erinnerungskulturforschung, der „neuen“ Kulturgeschichtsschreibung sowie dem wiedererwachten historiographischen Interesse an der Kategorie Raum zusätzlichen Schub verliehen. Dies gilt für die Erforschung postdiktatorischer Gedächtniskollektive in ganz Europa ebenso wie für Studien zur visuellen und literarischen Geschichtskultur sowie nicht zuletzt für die in der Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte entwickelten geschichtsregionalen Konzeptionen vom Typus „Südosteuropa“, „Ostmitteleuropa“ oder „Nordosteuropa“ – ein Forschungsdesign, das mittlerweile auch von Ethnologen, Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern sowie solchen Historikern angewandt wird, die sich mit anderen Teilen Europas befassen. Dieser Band versammelt Aufsätze zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, (historical) visual culture, einer weit definierten Kulturgeschichte sowie dem Forschungsansatz historischer Meso-Regionen, die in den Jahren 2006 bis 2012 entstanden sind.
Die Erinnerungskulturen Europas sind vor allem durch das „kurze 20. Jahrhundert“ geformt. Der Zweite Weltkrieg und die Vernichtung der europäischen Juden, andere Völkermorde und Massenverbrechen, Zwangsarbeit, GULag, Besatzung, Kollaboration, Kriegsgefangenschaft, Deportation und ethnische Säuberung prägen zu einem guten Teil das Bild des Jahrhunderts in den nationalen Öffentlichkeiten der Europäer. Dies spiegelt sich im gesellschaftlichen Gedächtnis ebenso wider wie in staatlicher Geschichtspolitik, hier vor allem in Form von Memorialkomplexen, Mahnmalen und Museen. Gleichzeitig reflektiert „Stein gewordene Erinnerung“ frühere Schichten und Modi des Gedenkens. Diese demonstrieren, dass sich die „Sprache des Gedächtnisses“ im Lauf der Zeit wandelt und Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes ist. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland, Polen und Russland bildete den Schwerpunkt der Internationalen Konferenz „Erinnern an den Zweiten Weltkrieg – Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa“, die vom 1. bis 3. Juli 2010 in Berlin stattfand. Die Konferenz war die zweite in einer Reihe trilateral deutsch-russisch-polnischer Veranstaltungen zur Erinnerungskultur. Eine erste zur Genese des Zweiten Weltkrieges hat 2009 in Warschau stattgefunden. Für 2011 ist eine Folgekonferenz in Moskau geplant.
Zwischen 1991 und 1995 kam es während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu zahlreichen politisch motivierten Zwangsmigrationen, bekannt als „ethnische Säuberungen“. Diese Ereignisse weckten im kollektiven Gedächtnis Europas Erinnerungen an den Holocaust, andere Genozide und die erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen in Mittel- und Osteuropa zwischen 1912 und 1949. Das neu erwachte europäische Interesse an Vertreibung zeigte sich politisch in verschiedenen Initiativen: 1999 initiierte der Bund der Vertriebenen ein nationales „Zentrum gegen Vertreibungen“, gefolgt von einer Empfehlung des Deutschen Bundestags im Jahr 2002 zur Gründung eines „Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen“. 2004 forderten die Parlamentarische Versammlung des Europarats sowie Kulturminister der Visegrád-Staatengruppe, Deutschlands und Österreichs eine europäische Einrichtung zur Zwangsmigration im 20. Jahrhundert, wobei Polen und Deutschland eine treibende Rolle spielten. Während im Herbst 2006 über ein „Europäisches Zentrum der Erinnerung an Opfer erzwungener Bevölkerungsbewegungen“ entschieden werden soll, wurde das „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ im Sommer 2005 gegründet. Diese Dokumentation beleuchtet die Entwicklung dieser Initiativen und die Aushandlung einer künftigen europäischen Erinnerungskultur durch Geschichtspolitiker und Historiker. Der Band enthält rund 60 offizielle und halbamtliche Quellen sowie Hintergrundberichte
Das Fach Kulturstudien Ostmitteleuropas, wie es seit 1999 an der Universität Leipzig vertreten ist, hat zum Ziel, die Kultur(en) einer spezifischen Großregion Europas verstehen zu lernen und dabei zu erfahren, wie das Verstehen fremder Kulturen generell vor sich geht. Was gegenwärtig das östliche Mitteleuropa bzw. – je nach Perspektive – das westliche Osteuropa darstellt, schließt die historische Region Südosteuropa mit ein. Den Gesellschaften dieses Ostmitteleuropa gemeinsam ist, daß sie heute Schauplatz der Rückgängigmachung des Experiments «Sozialismus» sind – ein Prozeß, der in Gestalt einer doppelten, gar dreifachen Umgestaltung stattfindet: In allen Staaten der Region werden die alten Eigentumsverhältnisse und politischen Systeme durch weitgehend neue abgelöst, während einige Staaten durch Sukzession bzw. Sezession ihrerseits neu- bzw. wiederentstanden sind.