Hans Sachs gilt zu Recht als Poet der Moralität. Seine scheinbar einfachen Lehren reagieren jedoch sehr sensibel auf die Probleme eines städtischen Publikums, das durch die epochalen Wandlungen und tagespolitischen Ereignisse des 16. Jahrhunderts in seinen Lebensformen zutiefst verunsichert ist und nicht nur nach pragmatischen Handlungsanleitungen verlangt, sondern auch neuer, affektiv verankerter Leitbilder bedarf. Unter dieser Perspektive lässt sich Sachs' Werk lesen als in sich widersprüchlicher Versuch, durch konsequente Didaktisierung die sich überlagernden Produktions- und Denkweisen, Zeitdimensionen und Lebensformen zu harmonisieren.
Maria E. Müller Bücher






Vergessene Texte - verstellte Blicke
- 411 Seiten
- 15 Lesestunden
Jörg Wickram aus Colmar zählt zu den vielseitigsten deutschsprachigen Autoren des 16. Jahrhunderts. Er prägte medienübergreifend den städtischen Literaturbetrieb, inszenierte eigene und fremde Dramen, gründete die Meistersingergesellschaft seiner Heimatstadt und wagte sich als nicht gelehrter Dichter an die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, die er selbst illustrierte. Das bisherige Forschungsinteresse galt vorrangig seinen Erzählformen, insbesondere seinen späteren Prosaromanen, in denen er gattungsästhetisches Neuland betrat: Er verlieh der Lebenswelt von Bürgern und Bauern literarische Dignität und entfaltete Vorformen poetologischer Reflexion. Über die Weiterführung narratologischer Analysen zum Romanwerk hinaus erschließt der Band erstmals das Gesamtwerk Wickrams in seiner Vielgestaltigkeit literarischer Genres, Aufführungsformen und Bilderwelten. Durch die Einbeziehung kultur- und kunstwissenschaftlicher, performanz- und gender-theoretischer Ansätze werden neue Perspektiven eröffnet.
Marieluise Fleißer, in den 20er Jahren skandalumwitterte Dramatikerin und mit Bertolt Brecht auf problematische Weise verbunden, hat in der deutschen Literatur einen einzigartigen Ton getroffen. Kleinbürgerliche Tristesse und individuelles Aufbegehren gegen das enge, katholisch geprägte Milieu sind es, denen sie zu authentischer Kontur verhilft. Dabei entwickelt sie eine Sprache, deren Künstlichkeit den vermeintlich volkstümlich-provinziellen Ton unterläuft. Den ästhetischen und rhetorischen Strukturen der Texte gilt das besondere Interesse der in diesem Band enthaltenen Beiträge. Sie umfassen das gesamte Spektrum des Fleißerschen Werks, das durch die kunstvolle Inszenierung von Blick- und Sprachgesten unverwechselbar wird. Dass es dennoch so schwierig war, sich in die Literaturgeschichte einzuschreiben, verweist auf die Problematik weiblicher Autorschaft im Umfeld einer männlich dominierten Avantgarde.
Hans Sachs gilt zu Recht als Poet der Moralität. Seine scheinbar einfachen Lehren reagieren jedoch sehr sensibel auf die Probleme eines städtischen Publikums, das durch die epochalen Wandlungen und tagespolitischen Ereignisse des 16. Jahrhunderts in seinen Lebensformen zutiefst verunsichert ist und nicht nur nach pragmatischen Handlungsanleitungen verlangt, sondern auch neuer, affektiv verankerter Leitbilder bedarf. Unter dieser Perspektive lässt sich Sachs' Werk lesen als in sich widersprüchlicher Versuch, durch konsequente Didaktisierung die sich überlagernden Produktions- und Denkweisen, Zeitdimensionen und Lebensformen zu harmonisieren.