Die bundesdeutsche Konsensgesellschaft zeigt Risse. Die Deutschen stehen vor der schmerzhaften Erkenntnis, dass moderne pluralistische Gesellschaften ohne substanzielle Mitte und klar definierbaren Identitätskern auskommen müssen. Ideologische Gewissheiten lösen sich auf, vertraute Strukturen verschwinden oder müssen sich neu legitimieren. In Fragen der Staatsbürgerschaft, Einwanderung oder Biotechnologie scheitern Versuche, neuen Herausforderungen mit hergebrachten Denkmustern zu begegnen. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten erweisen sich als verhandelbar, als temporäre Vereinbarungen, die inmitten vielfältiger Interessen getroffen werden müssen. Das Sinnzentrum, das die Gesellschaft zusammenhalten soll, erweist sich als leer. Die Einsicht, dass das Leben in einer offenen Gesellschaft mit dauerhafter Ungewissheit verbunden ist, weckt Ängste und Ressentiments. Das Bedürfnis, das Wertevakuum mit neuen Sinnkonstrukten zu füllen, wächst. Statt Unwägbarkeit als Bedingung der Freiheit anzunehmen, wächst in den Eliten der Wunsch nach Homogenisierung, mit Versprechungen von „Integration“ oder Rückkehr zu einer „Wir-Gesellschaft“. Richard Herzinger argumentiert jedoch, dass der Wegfall verbindlicher Wertvorstellungen die Chance für ein humaneres Zusammenleben bietet. Ein von der Illusion eindeutiger Lösungen befreites Denken kann tragfähige Übereinstimmungen in zunehmend individualisierten Gesellschaften hervorbringe
Richard Herzinger Bücher
Richard Herzinger ist Politikredakteur der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Er hat sich intensiv mit Themen wie Antisemitismus, Islamismus, Terrorismus sowie Individualismus und sozialer Verantwortung auseinandergesetzt und darüber geschrieben und Vorträge gehalten. Er ist eine wichtige Stimme im europäischen Dialog über die Beziehungen zum Nahen Osten und die Rolle der Europäischen Union.




Der Westen, den wir verteidigen wollen, ist keine heile Welt. Er ist auch nicht die beste aller Welten. Unser Bekenntnis zum westlichen Liberalismus ist nicht mehr als das fröhliche Eingeständnis, dass wir keine Utopie haben. Es gibt nur diese eine, unvollkommene Wirklichkeit, und der zivilisierte Umgang mit scheinbar überwältigenden Problemen muss täglich neu ausgehalten und erlernt werden. (zit. vom Umschlag)
Masken der Lebensrevolution
Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in den Texten Heiner Müllers