Gedanken rufen immer weitere Gedanken hervor, Forschungen ziehen neue Forschungen nach sich, Gedichte bilden Anregungen für ihre Verwandlungen in gleichgeartete Versuche und Ausrichtungen auf verwandte Stimmungslagen. Das Lesen von Lyrik oder gedankenreicher Prosa führt zu einer Beschleunigung der schöpferischen Intensionen, zur Vertiefung unserer Empfindungen und der Erweckung unserer Intuitionen. „Große Worte“ gehen in unseren inneren Bestand über, wirken oft unbewußt auf unsere geistige Substanz, schlagen sich nieder in Transformationen, Umwandlungen, Umformungen, Umwidmungen. Der Lyriker Wilhelm Ziehr setzt Gegenwart und Wirklichkeit aus und belebt sie auf eigenwillige Art.
Unter dem Titel „Einblicke und Perspektiven“ faßt Wilhelm Ziehr die Beiträge für den zweiten Band seiner „Aufsätze zur Kulturgeschichte“ zusammen. Es sind, wie bereits zuvor, Essays, die das weite Interessenfeld des Autors und Lexikographen widerspiegeln. Passend zum Humboldt-Jahr stellt Ziehr hier die Entdeckung der Korrespondenz von Alexander von Humboldt und dem Begründer der Gletscherforschung, den Schweizer Naturforscher Louis Agassiz, dar, der auch Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften war. Doch Überraschungen findet der Leser auch in den anderen Darstellungen vor allem in seinen Ausführungen zur Geschichte der Freimaurerei und zur internationalen Wirkung des Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832).
Die kulturgeschichtlichen Aufsätze „Zwischen Mond und ästhetischer Maschine“ schlagen einen Bogen von der Poetologie der Trobadorlyrik des Hochmittelalters zu den ästhetischen Auseinander-setzungen des frühen 20. Jahrhunderts. Der Reichtum europäischer Kultur spiegelt sich nicht nur in den Zentren der Kulturnationen, sondern auch in ihren Regionen, in überragenden Einzelper-sönlichkeiten und einem Schrifttum, das heute in Vergessenheit zu geraten droht. Der Kulturhistoriker und Schriftsteller Wilhelm Ziehr findet immer wieder Ansatzpunkte, um die Individualität, die Bedeutung und die anregende Kraft solcher Zeugnisse europäischer Kulturschätze darzulegen.
Die stete Auseinandersetzung mit seiner gewählten Wortwelt wie mit der Dichtung allgemein lenkt den Lyriker von der Realität ab, und so vertraut er sich seiner Imagination und der Begabung seiner Wortfindung wie der Intensität ihrer Aufbereitung an. Lyrik zielt dabei auf eine innere Ansprache und über das vorsätzliche Gleiten in eine eigene Seinsphäre jenseits der bereits erfaßten Welt eher zum Auflösen verfestigter geistiger Positionen und enger Emotionalität zu Gunsten einer Erweiterung dichterischer Sicht auf die Welt und die sich daran anschließenden und nachwirkenden Lebensverhältnisse. Lyriker bewegen sich in ihren Versen nicht zwischen richtig und falsch, und das weder im Sinne der Philosophie oder der Zeitströmung, noch der Moral oder der Grammatik. Ihre Dichtung ist, wenn gelungen, autonom und mit den immanenten Spuren der unfreiwilligen Selbstauflösung behaftet, sie vermag alles einzubeziehen oder abzuwehren, das Deutliche zu unterdrücken, das Verzogene, das Vorsätzliche bis zum Absurden zu durchdringen. Doch gilt weiterhin, alle Erkundungen, Selbstbezeichnungen oder Erläuterungen ihres Laufs durch die Sprache bleiben vage. Der Vorlauf von Kunstwerken zeigt jeweils eine eigene Geschichte in der Entfaltung der Selbstbezüglichkeit von Kunst wie von jeder einzelnen Dichtung. Die anwehenden Erscheinungen der Natur und die unbeschränkbaren Berührungspunkte unserer Sinne mit der Materialität als der beengenden, sich ständig erweiternden oder verfließenden Wirklichkeit arbeiten wir nie ab und begegnen ihnen in Freiheit. Das heißt, wir sind also auch durch die Natur als der unübersehbaren realen Welt mit einem Ausscherenden, einem Ziellosen als dem Unendlichen verbunden. Der „ästhetischen Identifikation“ (Hans Robert Jauß), den Empfindungen, den Urteilen läuft die Idee einer Dichtung bis in die Unendlichkeit des Materiellen voraus und noch mehr dem uferlosen Immateriellen hinterher, giert nach ihren Drogen, und das sind die Imagination, die Intuition, der einfallende melancholische Zauber der Entrücktheit, eine Umsetzung der inneren sprachlichen Unruhe, das Haschen nach Beständigkeit und der poetischen Eigenmoral und Eigenwilligkeit der nicht in allem vorgebbaren Sinnfähigkeit. Auch hier eine Grenze, aber wir bilden sie selbst durch geheimnisvolle Atempausen, Zaubereien des alogischen Abstands zum Natürlichen als ästhetischen Seinspunkt eines eigenen „interesselosen Wohlgefallens“ (Kant) und des Vergnügens an einer individuellen Realitätssetzung. „Es zeichnet Poesie sich eben aus durchs Fehlen einer klar bestimmten Grenze“, schrieb Jossif Brodskij (in: Post aetatem nostram). Die Illusion der eigenen Erfahrung und ihrer Sichtweisen – das ist der den Lyriker bedrückende Schatten unter der Wirklichkeit in unserer Lage.
Das pointierte Satzgefüge des Aphorismus spiegelt Überzeugungen, setzt oft ein mit wachsendem Unmut unter einer sprachlichen Spannung, die ihren genau bezeichneten Zufluchtsort sucht. Der Aphorismus bedrängt das Vergangene, das Vorgegebene, das Politische, das Gesellschaftliche, kurz den Konsens im schnöden Spiel der auch in Deutschland geförderten allgemeinen Sorglosigkeit. Ein Autor, der heute Aphorismen schreibt, ist geradezu gezwungen, Nonkonformist zu sein. Insofern sind die hier vorgelegten „Variationen beständiger Gedanken“ von Wilhelm Ziehr kritische Notate zu unserer Zeit, eine Absage an die Konsens-Gesellschaft.
Ludwig Legge hatte bereits in seiner vor Jahrzehnten (1971) veröffentlichten Sammlung „untermorgen übergestern“ die Reflexe unserer Scheingegenwart im Spiegel der Reklametexte, Leuchtschriften, Schlagwörter und Filmtitel aufgenommen, sie auf ihren Nennwert reduziert und damit der üblichen geistlosen Verfremdung unserer Gegenwart widerstanden. Literatur hat mit Vergegenwärtigung zu tun und mit individueller Auflösung bis wir auf das Unbegreifliche stoßen, wie es auch Schönheit und anregende Geisteskraft vermögen. Doch aus Legges Köcher kommen noch andere, viel weiter zielende Wunderwaffen. aus Wilhelm Ziehr: „Ludwig Legge im Wort und Zeitmaß der Moderne“