Erzählstruktur und Bildungsroman
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Die herkömmliche Auffassung koppelt Wielands „Geschichte des Agathon“ und Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ als die „beiden ersten Bildungsromane“ zusammen. Der Begriff , Bildungsroman‘ wird dabei verstanden als eine Zusammensetzung von Blanckenburgs Auffassung des „Charakterromans“ als eine Entwicklungsgeschichte des Charakters der Hauptperson und von Diltheys Auffassung des Bildungsromans als Darstellung der Bildung des Protagonisten zu einem bestimmten Persönlichkeitsideal hin (welche Auffassung zum er-sten Mal schon in Körners Besprechung der „Lehrjahre“ vorkommt). Als in der Forschung die Erreichbarkeit des Ideals einer harmonisch entwickelten Persönlichkeit u. a. in den „Lehrjahren“ bestritten gestellt wurde, wurde häufig ebenso die Bezeichnung , Bildungsroman‘ u. a. in bezug auf sie abgesprochen. In der vorliegenden Arbeit wird die herkömmliche Auffassung des Bildungsromans in Frage gestellt. Es wird gezeigt, dass es sich im Bildungsroman nicht um die Darstellung der Entwicklung eines Charakters und/oder der Darstellung einer bestimmen Art von Persönlichkeitsideal handelt, sondern um eine neue Art der Gestaltung des erzählerischen Ganzen des Roman in der Weise, dass aus dem Protagonisten das Subjekt wird, durch das die Dinge sich zeigen als dynamischer Prozess der Erfahrung, deren Richtung und Sinn erst zu suchen sind. Der Protagonist selbst erscheint nicht mehr als ein „Charakter“, sondern er tritt in verschiedenen Erfahrungen seines Lebens auf, aufgrund deren er und auch der Leser ihn und den Prozess seiner Bildung erst gestalten müssen. Diese Änderung der Erzählstruktur des Romans – die neue Strukturierung der Verhältnisse zwischen dem Protagonisten, der übrigen fiktiven Welt, dem Erzähler und dem Leser – soll als eine Modernisierung des Romanerzählens angesehen werden, deren Kern die Stellung des seine Erfahrungen autonom interpretierenden Subjekts im Mittelpunkt des Romans ist.