Offene Wunden
Autoren
Mehr zum Buch
Unsere Familie stammt aus dem Sudetenland, aus dem kleinen Grenzstädtchen Schluckenau im äußersten Zipfel Nordböhmens, an der Grenze zu Sachsen. Diesen Bezugspunkt haben wir 1946 verloren. Was dies bedeutet, wissen alle Vertriebenen dieser Welt. Nach meinem Abschied von Schluckenau konnte ich ungeachtet vieler Mühen ein geordnetes und friedliches Leben führen, mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Im Alter fand ich Zeit, alte Briefe zu lesen, und damit ist alles Vergangene wieder grell lebendig geworden. Diese in erschreckender Bildhaftigkeit dastehenden Erinnerungsblöcke wollte ich niederschreiben. Das politische Geschehen der Dreißigerjahre und die Kriegserfahrungen in Berlin überschatteten meine Jugend. Unsere Putzfrau, die Baptistin war und schon in den Dreißigerjahren immer Angst gehabt hatte, ob ihr Mann, ein Straßenbahnschaffner, heil heimkommen würde, wenn er und seine kommunistischen Freunde sich mit den Schlägertrupps nationalsozialistischer Parteimitglieder Prügelein in den Straßen lieferten, hatte beim Mittagessen erzählt, dass aus Bethel, einer Anstalt für geistig und schwer körperlich behinderte Kinder, vermehrt Todesnachrichten kamen, und es wurde sofort Verdacht gehegt, dass diese Todesfälle nicht auf natürlichem Wege erfolgten. Ich hatte die Sorge und das Entsetzen meiner Eltern miterlebt, als in Berlin die Judenverfolgungen begannen. Mit sechzehn Jahren hatte ich als Schockerlebnis erfahren, dass man jüdische Mitbürger gezielt umbrachte. Ein österreichischer guter alter Bekannter meiner Familie war 1943 in die Maschinerie der gezielten Vernichtung geraten, war zu eineinhalb Jahren Theresienstadt verurteilt worden und nie mehr zurückgekommen. Dieser Dr. Schmeisser, selbst nicht Jude, ein Kenner der Berge - er hatte auch mir die Gasteiner Bergwelt gezeigt - hatte jüdischen Personen über die Schweizer und zuletzt über die ungarische Grenze geholfen. Ich hatte noch versucht ihn zu warnen, als zwei Gendarmen im Haus meiner Tante in Gastein nach ihm fragten. Ganz unmittelbar erlebte ich das Unglück der einzelnen Menschen, als ich als Medizinstudentin meinen Kriegsdienst im Krankenhaus von Schluckenau machen und dann dort bleiben durfte. Die Spitalsmauern und die Schwesterntracht waren mir Schutz, aber das Geschehen außerhalb zeigte sich in den Patientenschicksalen. Jedes als solches spiegelte die Katastrophe des Krieges und das Chaos des Kriegsendes wieder. Man kann sagen, ich sei nicht betroffen gewesen. Denn der Verlust an Vermögen, an dem ich vielleicht einmal als Erbin hätte teilhaben können, das wog nicht gegen das Schicksal derer, die ihr Leben in Vernichtungsschlachten ließen, wo einstürzende Häuser Familien auslöschten, Kleinkinder in Flüchtlingsströmen verloren wurden und von Haus und Hof Vertriebene auf fremden Äckern stehlen gingen, um zu überleben. Doch man vergisst nicht das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit der Einzelmenschen gegenüber dem, was man Schicksal nennt und doch Folge dessen ist, was andere Menschen in Verblendung anrichten. Man kann beklagen, dass Menschen, die sich unschuldig fühlen durften, schlimmste Konsequenzen erleiden mussten und ehemalige Opfer sich als Rächer schuldig machten. Es ist das Verdienst von unermüdlich arbeitenden Historikern und Historikerinnen, die komplizierten sozialen und politischen Zusammenhänge zu rekonstruieren und die historische Wahrheit immer genauer zu erschließen. Dahinter steht die Hoffnung, dass das Wissen, das daraus erwächst, folgenden Generationen ähnliche schlimme Erfahrungen ersparen helfen möge.