Die Heilung des verlorenen Ichs
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In keinem Bereich wird so deutlich wie in der Musik, in welch hohem Maß Europa kulturell von seiner Substanz lebt. Die Hoffnung, die Neuerungen des 20. Jahrhunderts würden bald genauso akzeptiert werden wie vormals die von Beethoven und Wagner, hat sich nicht erfüllt, und immer noch wird als neu bzw. als »Avantgarde« gefeiert, was mittlerweile oft schon 50 oder gar 100 Jahre alt ist. Ist Europa erschöpft, müde geworden? In seinem Buch geht der Komponist und Philosoph Wolfgang-Andreas Schultz den tieferen Ursachen für diese Stagnation nach. Sie reichen weit zurück bis in eine Zeit, als in Europa bestimmte Weichenstellungen erfolgten, die das Verhältnis des Ich zum Anderen und zur Natur festlegten. Mit Bezug auf Gottfried Benns Gedicht »Verlorenes Ich«, das die prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, zeigt Schultz, wie die Vorstellung eines isolierten, vom Anderen und von der Natur getrennten Ichs zur Krise der modernen Kunst führt, legt aber auch dar, dass Europa in eigenen, teilweise vergessenen Traditionen die Ressourcen finden kann, um kulturell lebendig zu bleiben. Dazu muss Europa sein Selbstbild kritisch befragen, es braucht eine neue Lesart seiner eigenen Geschichte, gerade auch der Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte. Für die Musik bedeutet das, nicht länger auszugrenzen, sondern innerhalb der abendländischen Tradition wie auch in der Begegnung mit anderen Kulturen die Vielfalt in einer verschiedene Zeiten und Stile umfassenden, gleichwohl persönlichen Musiksprache zu vereinen – das könnte die Utopie für eine Musik des 21. Jahrhunderts sein.