Die Rechtsfolgenseite des § 190 Satz 2 StGB
Autoren
Mehr zum Buch
„Ich finde überhaupt weder in Lehrbüchern noch in Commentaren eine exakte Auslegung des § 190.“ (Binding 1877) Dieser Satz, der in einem wenigen Jahre nach dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs erschienenen Werk Bindings nachzulesen ist, hat nach wie vor Gültigkeit. Die kurz gefasste Vorschrift wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar: „§ 190 Wahrheitsbeweis durch Strafurteil. Ist die behauptete oder verbreitete Tatsache eine Straftat, so ist der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen, wenn der Beleidigte wegen dieser Tat rechtskräftig verurteilt worden ist. Der Beweis der Wahrheit ist dagegen ausgeschlossen, wenn der Beleidigte vor der Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigesprochen worden ist.“ Offenbar hat sich bislang niemand herausgefordert gefühlt, die Tatbestands- und vor allem auch die Rechtsfolgenseite der beiden Sätze dieses Paragrafen auf alle denkbaren Bedeutungsgehalte hin zu analysieren. Diese Bedeutungsgehalte auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten Normen sowie mit dem Gesamtgefüge der materiell-strafrechtlichen und der strafprozessrechtlichen Normen zu untersuchen und ihre Konsequenzen für die Entscheidungsfindung vollständig auszuloten. Diese Abhanldung soll - begrenzt auf die Rechtsfolgenseite des Satzes 2 - einen Beitrag zur Schliessung dieser Lücke leisten. Die These, deren Richtigkeit in diesem Buch belegt werden soll, lautet: Die Interpretation, die dem § 190 S. 2 nur eine „Minimalbedeutung“ zuspricht, ist die zutreffende. Diese Vorschrift ordnet also lediglich an zu unterstellen, dass der Beweis der Wahrheit der Äusserung nicht geführt werden kann. Weitergehende Rechtsfolgen (Beweisverbot, Unterstellung der Äusserungs-Unwahrheit, materiell-rechtliche Modifikation der Straftatbestände) hat sie nicht. Deshalb ist sie dort, wo die Beleidigungs-Straftatbestände die Unwahrheit der Äusserung voraussetzen, bedeutungslos, denn an der Notwendigkeit (und grundsätzlichen Zulässigkeit) des Nachweises der Äusserungs-Unwahrheit ändert sie nichts. Demgegenüber wird heute nahezu einhellig betont, beide in § 190 enthaltenen Bestimmungen, also auch S. 2, seien auch für § 185 und § 187 „anwendbar“, womit jedenfalls zum Ausdruck gebracht werden soll, dass § 190 S. 2 dort (auch wenn man die Äusserungs-Unwahrheit als Tatbestandsmerkmal des § 185 ansieht) hier völlig bedeutungslos ist. Binding hat an der eingangs zitierten Stelle nicht nur den Mangel an Exaktheit der vorgefundenen Ausführungen zu § 190 beklagt, sondern zugleich betont, dass § 190 S. 2 StGB „leicht eine ungebührliche Tragweite gegeben“ werde. Diese schon damals zutreffende Einschätzung hat nichts an Aktualität verloren.