Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus
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Als Grenzregion mit ausgeprägter ethnisch-konfessioneller Vielfalt war der Kaukasus seit dem 18. Jahrhundert Schauplatz osmanisch-russischer Rivalität. Regionale Konflikte ebenso wie Großmachtinteressen im Rahmen der Orientalischen Frage verschärften die Gegensätze, die im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichten. Die Auflösung der benachbarten multi-ethnischen Imperien brachte jedoch den Völkern des Kaukasus die lang ersehnte Eigenstaatlichkeit nicht. Nach einem kurzen Zwischenspiel der Unabhängigkeit Anfang der 1920er Jahre geriet die Region erneut unter die Kontrolle einer imperialen Macht, der Sowjetunion, und wurde fast sechzig Jahre lang von Moskau aus beherrscht. Erst die Entwicklungen seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben die politische Landschaft des Kaukasus grundlegend geändert. Dort gibt es heute drei unabhängige Staaten in Gestalt von Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie mehrere autonome Republiken im Rahmen der Russischen Föderation. Die Sozialstruktur der Bevölkerung hat sich erheblich gewandelt; allerdings hat die Region noch keine politische Stabilität erlangt. Die letzten Jahrzehnte waren vielmehr von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Aserbaidschan, Georgien, Tschetschenien oder Dagestan geprägt. Sogar einen richtigen Krieg, zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, hat es dabei schon gegeben. Die Beiträge dieses Bandes behandeln unterschiedliche Probleme und Aspekte der Geschichte dieses „Krisenherds Kaukasus“. Das Spektrum der Themen reicht vom Gebrauch der Geschichte zur Legitimation politischer Ansprüche über die Quellengrundlage derartiger historisch begründeter Ansprüche, die Erscheinungsformen von Nationenbildung und nationalem Bewußtsein, die Ethnisierung des Sozialen bzw. die Politisierung des Ethnischen bis hin zu der Frage der Zukunftsfähigkeit multinationaler Staatskonzepte wie des Osmanismus im Zeitalter des Nationalismus. Was es nahegelegt hat, sie in einem Band zusammenzubringen, ist die Geschichte des türkisch-armenischen Verhältnisses, das seine Schatten praktisch auf alle hier behandelten Fragen wirft. Diese Geschichte erreichte ihren Tiefpunkt im Ersten Weltkrieg: Als die osmanische Kaukasus-Front zusammengebrochen war und an den Dardanellen die Landung der Entente-Truppen bevorstand, beschloß die jungtürkische Regierung im Frühjahr 1915, die armenische Bevölkerung Anatoliens zu deportieren. Ein Großteil der zwangsweise umgesiedelten Bevölkerung kam dabei um bzw. wurde umgebracht. Diese Deportation stellt ein schweres Verbrechen dar, für das im heutigen Diskurs die Bezeichnung „Völkermord“ verwendet wird. Eine adäquate Aufarbeitung dieser Geschichte steht, zumindest in der Republik Türkei, noch aus. Auch die Frage nach dem Mitwissen und der Mitverantwortung des Deutschen Reiches als wichtigstem Verbündeten der Türkei ist noch nicht ausdiskutiert. Demgegenüber kommt dem Thema Genozid in der armenischen (vor allem in der Diaspora entstandenen) Literatur, aber auch in der internationalen Forschung zentrale Bedeutung zu. Die Beiträge dieses Bandes versuchen, die gegenwärtige Forschungsdiskussion in ihren wesentlichen Aspekten zu erfassen und dabei zu weiterführenden komparatistischen Fragestellungen anzuregen.