Oksana Sabuschko ist eine zeitgenössische ukrainische Schriftstellerin, deren Werk sich tiefgehend mit Fragen der ukrainischen Selbstfindung und postkolonialen Problemen auseinandersetzt. Ihr Schreiben zeichnet sich durch einen scharfen Fokus auf Feminismus aus und beleuchtet oft die komplexen Beziehungen zwischen Sprache, Erinnerung und nationaler Identität. Durch ihre literarischen und essayistischen Arbeiten untersucht Sabuschko die Herausforderungen, vor denen die Ukraine bei der Gestaltung ihres Platzes in der Welt steht. Ihre einzigartige Stimme verleiht der ukrainischen Literatur eine starke intellektuelle und emotionale Dimension.
Am 24. Februar 2022 hat eine Zeitenwende stattgefunden: Russland beginnt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das ganze Weltgefüge gerät aus den Fugen. Oksana Sabuschko ist am 23. Februar 2022 scheinbar nur auf dem Sprung, um eine zweitägige Buchpräsentation in Polen zu absolvieren. Es sollte die längste Buchtour ihres Lebens werden … Von da an gibt sie Interviews für Medien aus aller Welt, spricht vor dem Europäischen Parlament in Straßburg und entschließt sich letztlich, die kurze Interviewform über Bord zu werfen und diesen Essay zu schreiben. Gekonnt verwebt sie die Geschichte der Ukraine und Russlands aus den letzten 300 Jahren, setzt sich intensiv mit den Auswirkungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs auseinander, zeigt auf, was in 30 Jahren ukrainischer Unabhängigkeit seit 1991 alles geschehen ist und wie die Ereignisse von 2004 und 2014 dem heutigen Krieg den Boden bereitet haben. Immer wieder flicht sie dabei persönliche Erfahrungen ein und gibt subjektive Einblicke in das, was der ukrainischen Bevölkerung ein kollektives Trauma ist. Sabuschko breitet den Leser*innen einen stetig fortgeschriebenen Teppich ukrainischer Geschichte aus – im Ton ist sie kämpferisch, emotional, provozierend und wütend.
Intensive Beziehungen zwischen Schwestern oder Mädchen sind das Leitthema der in „Schwestern“ miteinander verflochtenen Erzählungen. Gleichzeitig zeichnet diese Sammlung persönliche und politische Narrative der Ukraine nach. Das Mädchen Daryna, Protagonistin der ersten beiden Erzählungen, wächst in der sowjetischen Unterdrückung auf. In „Schwester, Schwester“ wird aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes über die Tragik nicht-realisierter Lebensmöglichkeiten reflektiert. Ihre Schwester erzählt in „Die Mädchen“ über sexuelle Erfahrungen und verknüpft damit Genderfragen und soziale Rollenbildern in der sowjetischen und postsowjetischen Ukraine. Von einem Volksmärchen inspiriert ist „Die Schneeballflöte“. Eine solche wird zur Stimme der Gerechtigkeit in den seelischen Abgründen zweier Schwestern und verwirft dabei das Stereotyp von Schuld und Sühne. In „Ich. Milena“ löst sich die Identität einer zunehmend schizophrenen Fernsehmoderatorin in einem medialen Hyperraum auf.Oksana Sabuschko, die wichtigste ukrainische Autorin der Gegenwart, schreibt mit frappierender Offenheit aus einer alltäglichen Realität, die „zu viel Geschichte für einen Quadratmeter“ enthält. Vielseitig in Stil und Blickwinkeln bietet sie einen unterhaltsamen und anspruchsvollen Lesegenuss.
Etwas mehr als einen Monat nach dem Terroranschlag im Bataclan am 13.11.2015 ist Oksana Sabuschko zu Gast in Paris. Die Erfahrung in der paralysierten Metropole lässt die ukrainische Autorin über das Verarbeiten von Angst, hervorgerufen durch Krieg und Terror, reflektieren. Das historische und kulturelle Gedächtnis europäischer Staaten stehen zunächst im Fokus des Essays. Ausgehend von den Kollaborateuren mit dem Vichy-Regime und dem Versagen der Linksintellektuellen während des Zweiten Weltkriegs reist Sabuschko durch die französische Geistesgeschichte von Sartre über Derrida bis hin zu Houellebecq. Wo liegen die Parallelen zwischen dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich und der russischen Besatzung der Krim seit 2014? Ist die Ukraine ein failed state? Welchen Einfluss haben Politik und Medien auf unser Alltagsleben? Bezugnehmend auf die Feldstudien geht sie in einem weiteren Schritt der Frage nach, inwieweit Sex eine Metapher für soziale und kulturelle Konstellationen darstellt. Dieser kluge und provokante Essay zeichnet einen langen Abschied von der Angst nach – lange mag der Weg sein, aber nicht hoffnungslos.
Die Ukraine ist für viele Mitteleuropäer ein Ort, der mit verschiedenen Assoziationen verbunden ist: von der Fußballeuropameisterschaft 2012 über Tschernobyl und den Holodomor bis hin zu einem langen Weg der nationalen Selbstfindung. Oksana Sabuschko, die leidenschaftlichste Stimme des Landes, thematisiert in ihren Romanen und Essays die verkommene Moral der herrschenden Klasse und deren historische Wurzeln. Diese Themen sind nicht nur ukrainisch, sondern betreffen uns alle. Der Umgang mit Geschichte, Geschlechterverhältnissen, Sexualität und Kolonialismus stellt die moralische Verantwortung jedes Einzelnen in Frage. Sabuschko analysiert diese Verflechtungen mit einer unverwechselbaren Kraft und Lebendigkeit. Ihre Werke sind bekannt für ihren Stil sowie ihren politischen, philosophischen und historischen Horizont. In „Planet Wermut“ finden sich Aufsätze über Fußball, Tschernobyl, Lars von Trier und die politische Verantwortung in virtuellen Realitäten. Besonders hervorzuheben ist ihr programmatischer Essay über Feminismus und Postkolonialismus, der für das östliche Europa von grundlegender Bedeutung ist.
Oksana Sabuschkos zweiter Roman ist eine schonungslose, mutige und manchmal schockierende Abrechnung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Ukraine. In einem komplexen Panorama erzählt sie die Geschichte dreier Frauen und damit auch die schwierige und verworrene Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert.
Daryna ist Fernsehproduzentin in Kiew. Eines Tages entdeckt sie ein Foto der Partisanin Helzja, Mitglied der Ukrainischen Aufstandsarmee in den 40er Jahren, und beschließt, ihre Geschichte in einer Dokumentation aufzuarbeiten, umso mehr, als sie sich im Zuge ihrer Recherchen in Helzjas Enkel verliebt. Fast zur selben Zeit kommt Darynas beste Freundin bei einem Unfall ums Leben, die Malerin Wlada, deren international hoch gehandelte Gemäldeserie 'Geheimnisse' bei diesem Unfall verschwindet.
Geheimnisse – vor den Bolschewiken vergrabene Ikonen, geheimniskrämerische Mädchenspiele, von der offiziellen Geschichtsschreibung Verschwiegenes, das Unausgesprochene zwischen Männern und Frauen – dieses Motiv durchzieht den überbordend erzählten Roman, der eine erstrangige Mentalitätsgeschichte eines paradigmatischen osteuropäischen Landes darstellt. Oksana Sabuschkos neues Buch ist noch offensiver als ihr Erfolgsroman Feldstudien über ukrainischen Sex, sie verschont weder die Helden der ukrainischen Geschichte noch deren Opfer, weder die Jahrzehnte unter der russischen Sowjetherrschaft noch die ersten beiden Jahrzehnte der Unabhängigkeit, und – da sich der gesellschaftliche Machtkampf gerade auch im Sexuellen spiegelt – weder Männer noch Frauen. Ihre Fragen gehen uns alle an: Ist es vernünftig, die 'stillgelegten Geheimnisse' der Geschichte auszugraben – oder sollte man sie aus Sicherheitsgründen gar nicht erst berühren? Wie gehen wir mit den Traumata der Vergangenheit um, von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie geerbt haben?
Rezensionszitat:
'Das Buch fesselt den Leser von der ersten Seite an, was für alle Bücher von Sabuschko zutrifft – ihr fieberhafter, aufgewühlter und äußerst verwickelter Diskurs strahlt eine solche Energie aus, dass der Leser sich dem Willen der Autorin fügen muss, sich am Schopf packen und in den Strudel hineinziehen lässt.
Dieses Buch, seit seinem Erscheinen die Nr. 1 aller ukrainischen Bestsellerlisten, ist von so großer Bedeutung, dass Oksana Sabuschko von den Kritikern bereits als zweiter Dostojewski bezeichnet wird … Hier wird die ganze bittere und harte Wahrheit über unsere heutige Realität erzählt.' UNIAN (Ukrainische staatliche Nachrichtenagentur)
Textauszug:
Ich neige inzwischen zur Ansicht, dass das menschliche Leben nicht nur eine episch aufbereitete Story mit Personal (Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Kollegen, wer noch …?) ist, die man als mehr oder weniger komplette Abbildung an die Nachfahren weiterreichen kann, so sieht es nur ein fremder Blick, eine Perspektive auf das Leben wie durch das umgedrehte Ende eines Fernrohrs, durch die Linsen verschiedener kurzgefasster Lebensläufe, autobiografischer Anekdoten und Küchengeschichten, der Privatmythen, also das fortwährende Zurechtstutzen der Form für das menschliche Auge; betrachtet man das Leben dagegen aus seiner Mitte heraus, erscheint es wie ein gewaltiger, unförmiger Koffer, vollgestopft mit – für andere überflüssigem – Kram, und diesen Koffer nimmt der Mensch unwiederbringlich mit sich, wenn er diese Welt verlässt. Unterwegs fällt freilich für die Lebenden zum Andenken das eine oder andere Überbleibsel aus dem nicht ganz geschlossenen Koffer (der Wunsch nach einem letzten Birnenkompott, ein schwungvoller Ballettschritt, ein Schwung von unten nach oben ähnlich wie beim Hochsprung) und bleibt, bis es vermodert, in den Köpfen der Finder … jedes Mal wenn ich auf so ein verirrtes Überbleibsel stoße, verspüre ich kaum merklich eine dumpfe Schuld wegen meiner Ratlosigkeit, als könne sich in dem zufälligen Überbleibsel ein Schlüssel verbergen, ein verlorener Code für einen tieferen, verborgenen Sinn des fremden Lebens, und dieser Schlüssel ist mir in die Hände gegeben und ich weiß nicht, in welches Schloss er gehört, und noch schlimmer, ob es dieses Schloss überhaupt gibt …
Zwischen Vulgarität und lyrischer Tonlage bewegt sich die Sprache des autobiographisch gefärbten Romans von Oksana Sabuschko, in dem sie die Geschichte einer Frau, einer Dichterin, erzählt, die aus 'Fäulnis und Moder' der ukrainischen Geschichte weg will und jetzt an einer amerikanischen Universität unterrichtet. Was sie erfährt, sind jedoch nur die Schrecken des Exils, die sie mit all den anderen teilt, die ihre Heimat verlassen haben und denen es nicht gelungen ist, 'sich zu verwirklichen'. Keine Frau hatte sich bisher, formal wie inhaltlich, öffentlich so radikal zu Fragen der Sexualpolitik, zum slawischen Machotum, zur Sklavenmentalität ihrer Heimat geäußert, sodass die Feldstudien über ukrainischen Sex sehr schnell zur ›Bibel des Feminismus‹ avancierten.