Durs Grünbein ist eine herausragende Stimme in der deutschen Lyrik und Essayistik, gefeiert für seine intellektuelle Tiefe und sprachliche Verspieltheit. Sein Werk thematisiert häufig Erinnerung, Geschichte und die Wandlungen der modernen Welt, wobei es eine einzigartige Mischung aus Gelehrsamkeit und Vorstellungskraft widerspiegelt. Über seine originären Beiträge hinaus bereichert Grünbein die literarische Landschaft durch seine aufschlussreichen Essays und Übersetzungen klassischer Werke und festigt damit seinen bedeutenden Einfluss auf die zeitgenössische Literatur.
Durs Grünbeins Gedichte verbinden präzise Wahrnehmungen mit Reflexionen über Zeit, Geschichte und das individuelle Dasein in der Großstadt. In den neuen Langgedichten und Zyklen, geordnet in Kapitel wie "Unzeitgemäße Gedichte", werden zentrale Themen weiter entfaltet. Das Titelgedicht thematisiert den Gegensatz zwischen magischer und rationaler Poesie.
"In welchem schneebedeckten Jahrhundert, mit Fingern / Steif / auf bereifte Scheiben gemalt, erschien dieser Plan / Zur Berechnung der Seelen?", schrieb Durs Grünbein vor Jahren in einem Gedicht mit dem Titel Meditation nach Descartes. Der Held und das Leitmotiv des Gedichts sind nun zurückgekehrt in Form einer langen Eloge auf den Philosophen. Mehrere Winter lang hat der Autor an einem Poem gearbeitet, das nun vollständig vorliegt mit 42 Cantos, die den Kapiteln eines Romans entsprechen. Vom Schnee umkreist jenen Moment im Leben des René Descartes, da dieser im Winter des Jahres 1619 in einem süddeutschen Städtchen, einer Vision gehorchend, zu philosophieren beginnt. Das Erzählgedicht endet in einem anderen Winter, 30 Jahre später, mit dem plötzlichen Tod des Philosophen. In fortlaufenden Szenen werden Jugend und Reife des großen Denkers an der Schwelle der Neuzeit ineinandergespiegelt nach der Regie eines Traums.Vom Schnee oder Descartes in Deutschland ist vieles. Ein Bilderrätsel; eine Unterhaltung in Versen, eine Hommage an die kälteste Jahreszeit und die Lehre von der Brechung des Lichts. Ein Bericht von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und von der Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Schnees.
Durs Grünbeins literarische Laufbahn begann mit zwei erfolgreichen Gedichtbänden zwischen Vor-»Wende« und der Wiedervereinigung. „Grauzone morgens“ dokumentiert den Untergang des sozialistischen Imperiums, während „Schädelbasislektion“ den Sprachzerfall und die Veränderungen im neuen Staat thematisiert. „Falten und Fallen“ reflektiert den westlichen Alltag und die Transformation. Die integrierte Ausgabe umfasst alle drei Bände sowie einen Anhang mit Materialien und Gedichten.
Der Begriff Metapher leitet sich ab vom griechischen metà phérein (anderswo
hintragen), was in der Antike meist 'per Schiff' bedeutete, so daß die
Seefahrt bald selbst zur Metapher für die Dichtkunst wurde. Das Schiff als
Symbol für den Aufbruch, das Wagnis des Lebens, gehört seither zu den
beflügelndsten Bildern der Literatur, Meeres- und Tiefseephantasien finden wir
nicht nur bei Homer und Melville, sondern auch bei Jules Verne, Baudelaire, T.
S. Eliot, ja sogar bei Dante. In 14 Essays spürt Durs Grünbein der Faszination
des Meeres nach, nicht nur in Büchern, sondern auch im Museo Archeologico von
Paestum und auf dem Grund des Tyrrhenischen Meers.
In seinen vier Vorlesungen, die er als Lord Weidenfeld Lectures im Jahr 2019 in Oxford gehalten hat, setzt sich der Dichter Durs Grünbein mit einem Thema auseinander, das ihn seit jenem Augenblick beschäftigt hat, als er die eigene Position in der Geschichte seiner Nation, seiner Sprachgemeinschaft und seiner Familie als historisch wahrzunehmen begann: Wie kann es sein, dass DIE GESCHICHTE, seit Hegel und Marx ein Fetisch der Geisteswissenschaften, die individuelle Vorstellungskraft bis in die privaten Nischen, bis in den Spieltrieb der Dichtung hinein bestimmt? Will nicht anstelle dessen Poesie die Welt mit eigenen, souveränen Augen betrachten?In Form einer Collage oder »Photosynthese«, in Text und Bild, lässt Grünbein den fundamentalen Gegensatz zwischen dichterischer Freiheit und nahezu übermächtiger Geschichtsgebundenheit exemplarisch aufscheinen: Von der scheinbaren Kleinigkeit einer Briefmarke mit dem Porträt Adolf Hitlers bewegt er sich über das Phänomen der »Straßen des Führers«, also der Autobahnen, hinein in die Hölle des Luftkriegs. Am Schluss aber steht eine erste Erfahrung von Ohnmacht im Schreiben und die daraus erwachsende, bis heute gültige Erkenntnis: »Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt.«
»So ist's: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern haben es dazu gemacht, und es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie.« Seneca, als Stoiker, widmet sich der Lebenspraxis und dem Streben nach einem gut geführten Leben, das von Vernunft geleitet ist und Affekten widersteht. Sein Ziel ist es, Seelenruhe zu erlangen. Auf die Frage, wie man leben sollte, antwortet er mit Aufforderungen wie »lebe jetzt«, »verschaff dir Muße« und »widme dich der Philosophie« – und nicht der Karriere oder Ablenkung. Sein eigenes Leben war jedoch von Ruhm, Verbannung und Rückzug geprägt. Durs Grünbein bringt den berühmten Text in einen neuen Kontext und beleuchtet die Widersprüche zwischen Senecas Philosophie und seinem Leben. Er fragt, warum ein erwachsener Römer seine Freizeit opfert, um über die Kürze des Lebens zu schreiben. In einem bewegten Brief an Seneca reflektiert Grünbein: »Du hattest recht. Das kurze Leben raunt uns zu: halt an, / Eh die Affekte dich versklaven.« Doch er stellt auch die Frage, was passiert, wenn wir unbelehrbar sind und in uns bei jedem Ja ein Nein regt. Lucius Annaeus Seneca, geboren um 4 v. Chr. in Córdoba, war ein bedeutender philosophischer Schriftsteller und Dichter, der 65 n. Chr. in Rom starb.
Der »stille Aufruhr« eines elegischen Expressionismus treibt die Gedichte von Durs Grünbein voran, der sein Wirklichkeitserleben in krassen und direkten Bildern notiert. In diesen Gedichten, einem Protest gegen eine immer ungreifbarer werdende Realität, »passiert alles in Augenhöhe«. Durs Grünbein hält in seinen Poemen in »Glimpses & Glances«, Gedichten aus dem »Ghetto einer verlorenen Generation«, die flüchtigen Augenblicke fest: graue Städte, zerstörte Landschaften und die »kaputten Visagen« der Arbeitshelden. Zugleich aber träumen diese Gedichte auch davon, der Schwerkraft der Verhältnisse zu entkommen. Stellvertretend für eine junge, in die DDR hineingeborene Generation fragt Durs Grünbein: Amigo, was ist bloß schiefgelaufen, daß sie uns derart zu Kindern machen mit ihrer Einsicht in die Notwendigkeit, ihrer wachsenden Rolle des Staates?
Bleib stehen, Wanderer, und lies!, riefen vor zweitausend Jahren die
Grabsteine den Vorübergehenden zu. Inschriften sprachen von den Vergnügungen
des Gestorbenen, von Beruf und Verdienst, Charakter und Familie. Die
Persönlichkeit lebte weiter in gebundener Rede. Heute schweigen die Eiligen
allenfalls ein paar Ziffern an, über denen ein Name im Leeren verharrt,
beziehungslos, entlassen aus jedem Zusammenhang. Kein Zwiegespräch mehr von
Diesseits und Jenseits, keine Totengeister, die es zu beschwichtigen gilt. Das
wenige, das geblieben ist, gibt sich routiniert in vergeßliche Formeln gefaßt.
Es ist lange her, daß in diesen Breiten die Toten zu sprechen aufgehört haben.
Die Kulturgeschichte kennt Zeiten beredten und Zeiten stummen Gedenkens, sie
kennt auch die Sprachlosigkeit und das leere Schweigen. In Kulturen, denen der
Tod zum Tabu geworden ist, weil sie ihre eigene Sterblichkeit hysterisch
hinter Jetztzeit verbergen, ist nur mehr indirekt die Rede vom Ende. Wie der
Witz nach Sigmund Freud seine Beziehung zum Unbewußten, so offenbart das
Geschwätz um den Tod eine anthropologische Enttäuschung. Alles im Griff zu
haben, nur das nicht, muß kränkend sein für das einzige Lebewesen, das sich
mit seiner Lage nicht abfinden kann. Der Effekt kann nur ein komischer sein,
wo Bedauern an die Stelle von Trauer tritt. Durs Grünbein, in den letzten
Jahren bekannt geworden mit seinen Gedichtbüchern Grauzone morgens (1988),
Schädelbasislektion (1991) sowie Falten und Fallen (1994), zieht sich diesmal
ins Halbdunkel ungewisser Autorschaft zurück. Von dort tritt er vielstimmig
hervor als Philologe, Herausgeber, Nachdichter und Kompilator seiner
Notizbücher. Die 33 Epitaphe Den Teuren Toten singen das Lob der Entfremdung.
Eine neue Lektion deutet sich an: Lächerlich macht sich das Leben in seiner
vergeblichen Wiederkehr, sieht man es als den Reinfall des Endes. Wo gestorben
wird, ohne daß man den Toten Gehör schenkt, hat Schwarzer Humor seinen
Augenblick.
Durs Grünbein präsentiert nach fünf Jahren einen neuen Gedichtband, der eine Bilanz seiner Arbeit vor dem Jahr 2000 zieht. Seine Texte zeigen enzyklopädische Neugier und erkunden poetisches Terrain von der Antike bis zur Gegenwart, von Dresden bis zu den Planeten. Seine präzise Wahrnehmung wird oft als "Kälte" missverstanden.
Von der Feststellung ausgehend, daß eine normenbildende, maßstabsetzende Poetik nicht mehr existiere, zeichnet Grünbein seinen dichterischen Werdegang als »Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik«. Es geht dabei um die Idee vom genauen Wort, das seine maximale Aufladung erst als Resultante der Lebenssituation, seiner Stellung im kompositorischen Ganzen des Gedichts sowie im Gesamtsystem aller Arbeiten eines Autors erfährt. Unter dem Leitwort »Poesie ist Subjektmagie als Sprachereignis« bietet der Dichter am Ende seiner Vorlesung zehn Thesen auf dem gegenwärtigen Stand einer voraussichtlich unabschließbaren Sinnfindung: nicht als Poetik und nicht als Manifest, nicht als Theorie oder Methode, sondern als eigensinnigen Modus operandi des Dichtens in nachmagischer Zeit.