Das soziale Europa
Europäische Sozialpolitik und nationale Wohlfahrtsstaaten, 1883–2020
Europäische Sozialpolitik und nationale Wohlfahrtsstaaten, 1883–2020
Die zehnbändige Reihe C.H.Beck Geschichte Europas bietet eine umfassende und zeitgemäße Darstellung der europäischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, versammelt in einer Kassette. Die Bände behandeln Themen von der Antike bis zur Globalisierung, einschließlich Christianisierung, Kriegen und Demokratie.
Eine Einführung
Die Geschichte der europäischen Integration sieht man oft als ein reines Elitenprojekt an. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union erscheinen daran als unbeteiligt und desinteressiert. Doch dieses Urteil trügt: Sie hatten oft nur andere, eigenständige Vorstellungen vom Zusammenwachsen Europas als die politischen Entscheider. Sie nahmen zudem, vor allem seit den 1980er-Jahren, über Wahlen, Referenden, Interessengruppen, Beschwerden, Eingaben und Klagen aktiv Einfluss auf Europa. Sie erlebten Perioden des Vertrauens in die europäischen Institutionen, aber auch Phasen des Misstrauens. Auf der Basis von bisher kaum ausgewerteten Quellen zeichnet Hartmut Kaelbles Buch ein neues Bild der Vorstellungen und der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger der EU im historischen Wandel.
Soziale Ungleichheit nimmt heute wieder zu. Im 20. Jahrhundert gab es aber auch Phasen, etwa die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oder während des außergewöhnlichen „Wirtschaftswunders“ der 1950er- bis 1970er-Jahre, in denen es zu einer Abmilderung sozialer Schärfen kam. Doch zur Dynamik und Geschichte der sozialen Ungleichheit haben sich Historiker bisher selten geäußert. Hartmut Kaelbles neues Buch wirft diesen längst überfälligen „Blick zurück“. Es beschreibt die Entwicklungen der sozialen Ungleichheit dabei umfassend: Kaelble blickt auf die gesamte Zeitspanne von 1900 bis heute, auf Deutschland und Europa und auf die Verteilung der Vermögen und Einkommen. Er bezieht aber auch - anders als Wirtschaftswissenschaftler - Bildung, Wohnen, Gesundheit und individuelle Aufstiegsmöglichkeiten in seine Analyse ein. Zudem nimmt er die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit und den Einfluss der Politik auf sie ins Visier. So wird deutlich: Die Zunahme sozialer Ungleichheit ist vermeidbar.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Zahlreiche Städte, Verkehrswege und Industrieanlagen waren zerstört. Die wichtigen Entscheidungen über das Schicksal der Welt fielen nun in Washington und Moskau. Dennoch nahm der in Ost und West gespaltene Kontinent in den folgenden Jahrzehnten eine ganz erstaunliche Entwicklung. Der Wiederaufstieg Europas im Zeitalter des Kalten Krieges ist das zentrale Thema dieses Buches. Europa trat in eine Periode außergewöhnlichen Wohlstands ein und erfuhr in seinem westlichen Teil eine grundlegende gesellschaftliche Demokratisierung. In Westeuropa entstanden der moderne Wohlfahrtsstaat, eine liberale Zivilgesellschaft und stabile Demokratien. Das östliche Europa erlebte eine von oben erzwungene Industrialisierung, Alphabetisierung und soziale Sicherung im Zeichen zum Teil brutaler Diktaturen. In seiner souveränen Synthese arbeitet Hartmut Kaelble die gemeineuropäischen Entwicklungstendenzen der Epoche heraus, gibt der Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte das gleiche Gewicht wie der politischen Geschichte und bettet die Geschichte Europas in ihren globalen Kontext ein.
Die Beiträge dieses Bandes behandeln verschiedene Entwicklungsstränge der historischen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert: Sie befassen sich mit den Konvergenzen und Divergenzen, mit den Transfers und Verflechtungen, mit den Raumerfahrungen und mit den europäischen Besonderheiten, die diesen Prozess kennzeichneten. Die Beiträge zum europäischen Selbstverständnis konzentrieren sich auf Aspekte des Selbstverständnisses bei Geographen, Chinareisenden, Direktoren von Völkerkundemuseen, Historikern oder zeichnen die Debatte um das soziale und kulturelle Selbstverständnis Europas nach. Die Artikel zur gesellschaftlichen Europäisierung behandeln Fragen der transnationalen Mobilität von Migranten, der Spannungen zwischen Massenkultur und Arbeiterkultur, der europäischen Konsumdebatte, des Bürgertums nach 1945 und der Entwicklung von europäischen Gewerkschaften in multinationalen Unternehmen.
In dieser umfassenden Sozialgeschichte Europas nach 1945 werden zahlreiche aktuelle gesellschaftliche Probleme behandelt. Der Autor beleuchtet zentrale Themen wie Arbeit, soziale Sicherungssysteme, Bildung und Familie und zeigt den grundlegenden Wandel der europäischen Gesellschaften seit 1945 auf. Dabei werden markante Unterschiede innerhalb Europas sowie europäische Gemeinsamkeiten und Besonderheiten bis zur Gegenwart verfolgt. Hartmut Kaelble analysiert brisante Themen der öffentlichen Diskussion, untersucht Veränderungen in der Familienstruktur, Arbeitssituation, Bildungssystemen, Konsumverhalten, Migrationsströmen und sozialen Sicherungssystemen in den einzelnen Ländern. Auch Fragen nach gemeinsamen europäischen Werten und sozialer Ungleichheit werden angesprochen. Die Nachkriegszeit wird mit dem Wirtschaftsboom beschrieben, in dem Massenkonsum und der Wohlfahrtsstaat Gestalt annehmen. Ein großer Fokus liegt auf den 1970er und 1980er Jahren, die einen grundlegenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft markieren: Ölschock, wachsende Arbeitslosigkeit, Pluralisierung gesellschaftlicher Modelle und neue soziale Bewegungen zeigen gravierende Veränderungen an. Schließlich werden die Entwicklungen seit 1989 thematisiert, die einen erneuten Wertewandel mit sich brachten.