Ein materialistisch-humanistisches Projekt gegen die Enthumanisierung der Gesellschaft
437 Seiten
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Die praxisphilosophische Pädagogik, die in diesem Buch behandelt wird, basiert auf Geschichtsmaterialismus und verfolgt ein materialistisch-humanistisches Projekt. Sie verbindet Gesellschaftskritik mit der Notwendigkeit, dass eine kritische pädagogische Theorie aktiv in die gesellschaftliche Praxis eingreifen muss, um emanzipatorische Veränderungen herbeizuführen. Angesichts des Anpassungsdrucks in der Erziehungswissenschaft wird eine Rückbesinnung auf diese Prinzipien angestrebt, um der gegenwärtigen Enthumanisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Das Wort ‚Bildungsindustrie‘ bezeichnet gemeinhin die Gesamtheit von Unternehmen und Betrieben, die Materialien zum Lehren und Lernen anbieten und/oder selbst im Bereich der Bildung/Ausbildung als Dienstleister tätig sind. Der affirmativ angelegte Begriff hielt in dem Maße Einzug in den gesellschaftlichen Sprachgebrauch, wie private Bildungsdienstleister mit der Unterstützung neoliberal orientierter Regierungen als neue Akteure in den bildungspolitischen Sektor vordrangen. Dahinter steht ein grundlegender Wandel der kapitalistischen Akkumulationsbedingungen, der mit einer steigenden ökonomischen Bedeutung von ‚Humanressourcen‘ einhergeht. Demgegenüber liegt den Beiträgen des vorliegenden Hefts ein kritischer Begriff von Bildungsindustrie zugrunde, wie ihn der Bildungstheoretiker Heinz-Joachim Heydorn zur Analyse der technokratischen Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre formulierte. Obgleich der Begriff bislang nicht zu einer systematischen erziehungswissenschaftlichen Kategorie ausgearbeitet wurde, birgt der darin enthaltene Grundgedanke doch ein erhebliches Potential für die Analyse der gegenwärtigen Tendenzen in Bildungsplanung, Bildungspolitik und Bildungsreform.
Potenziale und Perspektiven seiner Theorie für die Pädagogik
Die Einzelbeiträge geben Impulse für die Wiederwahrnehmung und die Wiederaufnahme eines Theoriezusammenhangs, der ein gewaltiges Erklärungs- und Handlungspotenzial enthält und erziehungswissenschaftliches und pädagogisches Denken erheblich bereichern kann. Somit wird eine gesellschaftskritische Akzentuierung des pädagogischen Reflexionshorizonts eröffnet, die unverzichtbar für die Anbahnung emanzipativer Subjektwerdungsprozesse ist.
Wer Geschichte als ein empirisches Vorkommnis begreift, das in positivistischer Neutralität objektiv zu beschreiben ist, verkennt ganz wesentlich ihren politischen Charakter. Geschichte ist stets Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, sie entsteht im Medium ihrer Darstellung. Und die ist durchaus höchst widersprüchlich. Wenn wir von Geschichte reden, dann legen wir ihr einen doppelten Sinn bei. Zum einen können wir ihr angesichts ihrer Faktizität nicht entrinnen. Zum anderen aber bedeutet diese Faktizität fast nichts ohne Deutung und Erläuterung, ohne Kommentar und Sinnstiftung. So ist es nicht einerlei, ob wir von Herrschergeschichte oder von Mentalitäts- und Sozialgeschichte sprechen, ob wir einer geschichtsmaterialistischen Interpretation folgen oder ob wir Geistes- und Ideengeschichte betreiben. Und ein weiteres kommt hinzu. Es ist nämlich keineswegs unwichtig zu klären, in wessen Namen Geschichte geschrieben wird. Im Namen von Schwarzen Menschen, von Frauen, von kolonialisierten Völkern, von Schwulen, Lesben und transidentifizierten Menschen, von Menschen mit Behinderung, von Menschen jüdischen und islamischen Glaubens, im Namen der Armen? „HERRSCHAFT MACHT GESCHICHTE“ ist daher als kritischer Einwand gegen die gegenwärtig zu beobachtende Komplexitätsreduktion der ohnehin eher bruchstückhaften Vermittlung von Geschichte an den Schulen und Hochschulen zu verstehen.
Friedenspädagogik wird als eine Pädagogik des Widerstands gegen organisierten Unfrieden begriffen. Im Zentrum steht die Kritik des Systems gesellschaftlicher Friedlosigkeit und seiner Rechtfertigung. Friedenspädagogik reflektiert die Grundlagen einer pädagogischen Friedensarbeit unter den Bedingungen des Unfriedens. Ihr zentraler Bezugspunkt ist die Friedlosigkeit, die strukturell in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verankert ist. Dieses System gesellschaftlicher Friedlosigkeit, das in innergesellschaftlichem Unfrieden wie in einer Politik der Abschreckung, der Kriegsdrohung und des Militärinterventionismus zum Ausdruck kommt, gilt es auch auf pädagogischem Wege zu bekämpfen. Die vorliegende Rahmenkonzeption knüpft an die Modelle einer kritischen Friedenserziehung der 1970er Jahre an und führt diese weiter. Ziel einer kritischen Friedenspädagogik ist es, die Ursachen von Friedlosigkeit offenzulegen und ihre Rechtfertigungsmuster außer Kraft zu setzen.
Friedlosigkeit äußert sich in der Verschärfung internationaler Konfliktlagen ebenso wie in innergesellschaftlichem Unfrieden, der durch eine neoliberale Verteilungspolitik potenziert wird. Die gegenwärtigen Bedrohungsszenarien sind Ausdruck eines Systems gesellschaftlicher Friedlosigkeit, das grundlegend mit der gewaltförmigen Struktur kapitalistischer Weltökonomie verknüpft ist. Die Antriebskräfte, Strukturen, Mechanismen und Rechtfertigungen dieses Systems von Friedlosigkeit aufzudecken, ist Aufgabe politisch-pädagogischer Bildung. Sie kann durch keine Wohlfühl-Friedenserziehung ersetzt werden. Die vorliegenden Beiträge wol-len Impulse für eine eingreifende politisch-pädagogische Friedensarbeit provozieren, die Aufklärung ursächlich am System gesellschaftlicher Friedlosigkeit ansetzt – mit dem Ziel, seine Rechtfertigungsmuster außer Kraft zu setzen.
Mit der Preisgabe des Prinzips der Kritik wurden erziehungswissenschaftliche Theorie und Praxis den neuen gesellschaftlichen Produktionserfordernissen weitgehend widerspruchslos ausgeliefert. Die Kritikfeindschaft der Gesellschaft wird durch kulturindustrielle Verarbeitung und die Unterstellung von Kritikfähigkeit verstärkt, ohne dass diese tatsächlich nachgewiesen wird. Die Verwechslung von Monieren mit Kritisieren ist eine Folge dieser Entwertung des Kritikprinzips. In der Erziehungswissenschaft wird diese Entwertung durch eine spezifische Auslegung vorangetrieben: Sie betrachtet sich als kritisch, wenn sie ihrem Untersuchungsgegenstand in distanzierter, „objektiver“ Weise begegnet, sich an wissenschaftliche Gütekriterien hält und empirisch nicht fassbare Phänomene ausschließt. Haltungen der Gesellschaftskritik und Selbstkritik, die der Erziehungswissenschaft helfen könnten, ihre Rolle im gesamtgesellschaftlichen Reproduktions- und Verwertungszusammenhang zu reflektieren, werden oft angefeindet. Ziel des Schwerpunktheftes ist es, das Prinzip der Kritik für die Erziehungswissenschaft und praktische Pädagogik neu zu formulieren. Die Beiträge sollen aufzeigen, wie Pädagogik als konkrete Kritik entwickelt werden kann.