Zorniger hat Andrzej Stasiuk nie über Polen und den Westen geschrieben als nach seiner jüngsten Reise durch Südosteuropa. Zurück aus den „Ländern mit ausgeprägter Persönlichkeit“, wo Minarette neben Minen- und Gräberfeldern stehen, stößt er sich an obszönen Widersprüchen im eigenen Land: Nach Märtyrertum dürsten, aber zwischen zwanzig Chipssorten und erschwinglichen Tunesien-Angeboten wählen − wie paßt das zusammen? Sieht Polen nicht längst aus wie ein zurückgebliebenes Deutschland? Bleibt der Südosten deshalb ein nie einzuholendes Ziel, weil den Reisenden dort eine Realität anspringt, die zu Hause verdrängt oder neutralisiert ist? Reisebilder und Reflexionen, Rhapsodie und Pamphlet − Andrzej Stasiuk radikalisiert in seinem neuen großen Prosatext seine Kunst des scharfen Blicks und der pointierten Poesie.
Andrzej Stasiuk Bücher
Andrzej Stasiuk ist ein führender zeitgenössischer polnischer Autor, dessen Werke das Herz Osteuropas erforschen. Seine Essays und Reiseberichte beleuchten die vielschichtige Beziehung zwischen Ost und West und erfassen die Realität der Region aus einer unverwechselbaren Perspektive. Nach einer bewegten Jugend, die auch Gefängnisaufenthalte umfasste, debütierte Stasiuk 1992 und etablierte sich umgehend als bedeutendes literarisches Talent. Seine spätere Prosa, oft angesiedelt in den abgelegenen Gebieten Südostpolens, zeichnet sich durch impressionistische Beschreibungen und eine Atmosphäre aus, die bei Lesern weltweit Anklang findet.







Der Stich im Herzen
Geschichten vom Fernweh
Kaum jemand versteht so viel vom Unterwegssein als Lebensform wie der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Seine fünfzig Stücke kurzer Prosa über das Reisen spielen in den wenig besiedelten Gegenden an der polnisch-ukrainischen Grenze, in der sibirischen Steppe, sie entführen uns bis nach China und in die Mongolei. Ein Buch über entwurzelte Künstler aus der lemkisch-slowakischen Provinz (Andy Warhol und Nikifor aus Krynica), die Arm in Arm über den Broadway schlendern. Impressionen und Meditationen über das Ende der Sesshaftigkeit, eine Liebeserklärung an den unbetretenen, unbeschriebenen Raum, an die mongolische Steppe, die »reinste« Landschaft, wo es nichts gibt außer Himmel und Erde. Ein Brevier für erfahrungshungrige Leser, denen der Gedanke an eine Welt jenseits der eigenen einen Stich ins Herz versetzt.
Fado
Reiseskizzen
Während seiner Fahrten durch Albanien hört Stasiuk den Fado. Melancholie und sanfter Trotz dieser Musik sind auch den 24 kurzen erzählerischen Meditationen eigen, die thematisch wie geographisch einen weiten Bogen schlagen: von Südpolen bis Montenegro, vom Blick durchs Vergrößerungsglas auf eine alte Karte, die bosnische Dörfer verzeichnet, bis zu den Reflexionen über die neue Mobilität als Flucht aus der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben. »Gibt es eine bessere Metapher für die Reise als eine brüchige Landkarte? Gibt es eine noblere Art der Reise als die auf den Spuren eines Schriftstellers, dessen Bücher man bewundert? So eine Reise ist eine Pilgerfahrt. Und die Pilgerfahrt ist ja nichts anderes als die ältere Schwester der Reise als solcher. Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben.«
Andrzej Stasiuks Zyklus umfasst zwölf miteinander verbundene Geschichten, beginnend mit Kindheitserinnerungen, die das Magische und Erotische erkunden. Die Erzählungen, die wie Kapitel eines Entwicklungsromans wirken, zeigen junge Menschen, die zwischen Leben und Tod balancieren, und verwandeln ihre Traurigkeit in große Literatur.
„Auf den Schrottplatz kommst du nicht“, sagt Grzesiek zu seiner orangen Syrena, in der er mit Kupferdrahtrollen an der polnisch-slowakischen Grenze unterwegs ist. „Ich finde schon jemanden für dich. Vielleicht einen Rentner. Er wird für dich sorgen, und ihr werdet zusammen alt werden.“ Wie die berühmten Galizischen Geschichten spielt auch Winter unter Menschen in einer armen Gegend, deren Bewohner nach der Wende auf der Strecke geblieben sind. Sie leben in einer großen Stille. Überall in der Landschaft liegen kaputte oder ausrangierte Gegenstände herum, „von Leere durchweht“, ihres Sinns beraubt. Ob es einen eschatologischen Mechaniker gibt, der mit einem himmlischen Schraubenschlüssel an ihrer Erlösung arbeitet? Andrzej Stasiuks unvergeßliche Geschichten erzählen vom Geheimnis und von der Würde einer bald verschwundenen Welt.
Die Mauern von Hebron
- 150 Seiten
- 6 Lesestunden
»Aus Langweile kaufte ich mir ein Heft und einen Kugelschreiber, setzte mich eines Abends hin und schrieb, wie mir Opa Jarema geraten hatte, ein Buch über das Gefängnis. Zwei Wochen habe ich dafür gebraucht. So lange wie die Arbeit in der Zuckerfabrik. Ich hatte keine Ahnung, daß es so leicht ist, ein Buch zu schreiben.« Stasiuks legendäres Debüt, seit 1992 in Polen immmer wieder aufgelegt, verstört und fasziniert die Leser bis heute. Die gewalttätige Realität des Gefängnisalltags verlangt dem Autor jene Kraft zur poetischen Überschreitung ab, für die sein späteres Werk bewundert wird. In keinem anderen Text Stasiuks ist der Blick auf die Wirklichkeit so schamlos und gnadenlos. Dem Untergrundverleger war das »Buch eine Spur zu knastig für diese Zeiten«. Heute bildet es das Fundament seines Werkes. Denn die rauschhafte Schönheit in der Welt hinter Dukla hätte sich ohne die existentielle Schwärze der Mauern von Hebron womöglich nie gezeigt.
Babadag ist einer der Orte, die Stasiuk zwischen Ostsee und Schwarzem Meer durchreist – ein »schwacher Ort«, der verschwindet, sobald man sich abwendet. Die Angst, diese Orte und ihre Bewohner könnten aufhören zu existieren, wenn er sie nicht beschreibt, treibt ihn an. Aus dieser Furcht ist sein neues Buch entstanden – ein eindringliches Porträt einer Welt weit hinter Dukla. Kuhherden auf einer Bahnstrecke hinter Oradea, Schafe in Satu Mare, ein Schimmel in Suceava – die Tiere bevölkern den schmutzigsten, entlegensten Teil unseres Kontinents. Inmitten verrosteter Lagerhallen und riesiger Schornsteine zupfen sie vergiftetes Gras, ohne Angst oder Interesse, als wären sie dort seit Urzeiten. Stasiuks literarische Reportagen aus Albanien, Moldawien, Rumänien, der Ukraine, Ungarn und der Slowakei sind durchzogen von Sequenzen, die an Filme von Buñuel oder Fellini erinnern. Nach der Rückkehr kann er kaum glauben, dass er wirklich dort war – die Bunker, Satellitenschüsseln, UNO-Flaggen, das Dorf im Donaudelta, das im Wasser versinkt, und die Städtchen, in denen die Kinder schon müde zur Welt kommen. Diese Erlebnisse und Bilder bleiben in seinem Gedächtnis haften, als wären sie ein Traum, den er nicht loslassen kann.
Kurzes Buch über das Sterben
Geschichten
Andrzej Stasiuk, berühmt für seine Kunst, untergehende Orte und verschwindende Landschaften zu beschreiben, erzählt vier Geschichten über Abschied und Tod. Da ist Augustyn, der Schriftstellerkollege, der das Gedächtnis verloren hat und gelähmt im Pflegeheim liegt. Oder Olek, der vertraute Jugendfreund, der auf einer Reise nach Budapest damit herausrückt, dass er bald sterben wird. Ihr Sterben frisst sich ins Leben hinein. Der Tod trägt nicht mehr, wie noch in der Kindheit, das gutmütige Gesicht der Großmutter, die einfach hinüberging in eine andere Wirklichkeit. Verstörend ist seine Präsenz: dass er Menschen und auch Tiere im Griff hat, die noch warm und vertraut neben einem leben. Stasiuks Erzähler schaut genau hin, konfrontiert sich mutig mit einer Erfahrung, die fast jeder einmal machen wird.
Andrzej Stasiuk wäre lieber Rockstar geworden als Schriftsteller. Daß es anders kam, verdanken wir der verwunschenen Trostlosigkeit Warschaus, dem Realismus Godots, der Musik der Sex Pistols und Leuten wie Lou Reed und Jean Genet. Und einer permanenten Rebellion gegen Eltern, Schule, Armee und Gesellschaft. Im Dezember 1980, als das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde, kehrte Stasiuk nicht mehr in seine Kaserne zurück und landete im Gefängnis. Nach seiner Entlassung wurde er als Held des Widerstands gefeiert. Doch er war weder Pazifist noch Dissident - er hatte einfach keine Lust mehr. Dieser in einem einzigen, langen Atemzug erzählte Bildungsroman in ironischer Absicht bestätigt, was Stasiuk-Leser längst wissen: daß seine poetische Kraft sich nicht nur einem gefährlichen Leben, sondern auch dem unverwandten Staunen über die Wirklichkeit verdankt.
Grenzfahrt
Roman | Atemlose Kriegserzählung von poetischer und existentieller Wucht
Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Im Dorf am Bug haben sich deutsche Besatzungssoldaten einquartiert, in der Nähe verstecken sich polnische Partisanen. Jeder hier weiß, dass Lubko, der Fährmann, gegen Geld Fliehende und Händler ans andere Ufer rudert. Doris und Maks, ein jüdisches Geschwisterpaar aus der Stadt, wollen sich vor Verfolgung retten – hinüber nach Russland, am besten bis an den Amur. Doch Lubko weigert sich. Was er tut, ist gefährlich, macht ihn erpressbar, und die Nächte in jenen Tagen sind mondlos. Das Geschehen scheint sich aus der verträumten, nächtlichen Flusslandschaft zu entwickeln, die fremd und bedrohlich wirkt, seit Motorräder, Lastwagen und Panzer hindurch rollen und deutsche Wörter durch die Luft schwirren. Die Lektüre schlägt sofort in Bann, auch weil Grenzfahrt eine weitere Dimension öffnet – die der Erinnerung. Zurück in jenem Dorf, am Ende des Lebens, will dem Vater des Erzählers nicht mehr einfallen, dass er hier Kind war. Wie Stasiuk diese Episoden in die atemlose Kriegserzählung hineinwebt, verleiht dem Roman seine poetische und existentielle Wucht.