Wendepunkte
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. Jedermann hat die Empfindung, daß die Bundesrepublik in eine neue Epoche eingetreten ist. Die Zweiteilung, nicht nur die Deutschlands, sondern die ganz Europas, ist aufgehoben, Und auch die Bundesrepublik sucht ihren neuen Platz in der neuen Welt. Die Mauer und die Grenze sind weggefallen, aber nun kommen neue Herausforderungen auf uns zu. In solcher Lage vergewissert sich Gerhard Stoltenberg, wie die Bundesrepublik jenes Erfolgsmodell wurde, das so lange das Staunen der Welt war. Zum ersten Mal werden hier die großen Entscheidungen in Erinnerung gerufen, mit denen die Bundesrepublik ihren Weg aus der Katastrophe des Jahres 1945 in die legendäre Wirtschaftswunderwelt nahm. Aus heutiger Sicht scheint diese Entwicklung geradlinig gewesen zu sein. Doch ein Blick auf die zerstörten Städte, die Flüchtlingslager, in denen sich mehr als 10 Millionen Menschen aus den verlorenen Ostgebieten drängten, und die Vergegenwärtigung der erregten Bundestagsdebatten der fünfziger und sechziger Jahre macht deutlich, wie umstritten die großen Entscheidungen waren. Der Weg Bonns in die sich jetzt anbahnende „Europäische Union“ mit einer einheitlichen Wähung stellt uns alle vor ähnlich konfliktreiche Wegscheiden, wie sie die Zeit Adenauers, Erhards, Brandts und Schmidts markierten. Heute ist die soziale Marktwirtschaft für jeden fast selbstverständlich, selbst für die Opposition ist Planwirtschaft eher ein Schrecken. Damals mußte Ludwig Erhard um sie kämpfen. Die Wiederbewaffnung stellte eine Weichenstellung dar, gegen die eine Ohne-mich-Bewegung alle Großstädte mobilisierte. Die NATO ist heute für jedermann der Sicherheitsrahmen, in dem sich die europäischen Staaten bewegen; damals wurde sie häufig als „Auslieferung der Bundesrepublik an die Kräfte des Militarismus“ attackiert. In diesen Fällen waren es Adenauer oder Erhard, die am Ende Recht behielten; aber als eine neue Ostpolitik die von Hitler verspielten Provinzen als endgültig verloren anerkannte und auf dieser Basis eine neue Handlungsfreiheit für Deutschland gewann, waren es die Sozialdemokraten Brandt und Schmidt, die die Zukunft für sich hatten. Die große Rezession der späten siebziger und frühen Achtziger Jahre führte aber zum Machtverlust ihrer Regierungen, und die Debatte über die Bedingungen einer erneuten wirtschaftlichen Dynamisierung brachte die Regierung Kohl an die Macht. Es ist nur natürlich, daß Gerhard Stoltenberg, der langjährige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins und Finanz- und Verteidigungsminister der Regierung Kohl, die finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen besonders herausarbeitet und dabei auch die Rolle von Franz Josef Strauß und Karl Schiller - „Plisch und Plum“ im Volksmund detailliert behandelt. Bei der Lektüre wird erst richtig deutlich, daß man zu Unrecht heute von der „guten alten Bundesrepublik“ spricht: Sie war gar nicht so friedlich, wie es im Rückblick erscheint. Einer der großen Akteure von damals ruft die Jahrzehnte zwischen der Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung nun in Erinnerung.
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