Das Genie an der Grenze
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Seit dem Erscheinen von Georg Büchners Novelle „Lenz“ ist der „verrückte Lenz“ zu einem zentralen Thema der Literaturgeschichte geworden. An der Frage nach der psychischen Verfassung des Dichters entzündete sich eine Vielzahl von Konflikten, die ganze Forschergenerationen hindurch zu leidenschaftlichen bis erbitterten Diskussionen führten. Der Zusammenhang von Biographie und geistiger Konstitution findet gerade in der Lenz-Forschung der letzten Jahre immer wieder eine erstaunlich breit gefächerte Beachtung. Die hierbei vorgebrachten neueren Modelle der Deskription und Diagnose unterscheiden sich diametral in ihren methodischen Ansätzen voneinander und gelangen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, wie die Befindlichkeit des Dichters in den Jahren ab 1775 bis zu seinem Tod in Moskau 1792 einzuschätzen sei. Wie sich die facettenreiche Poetik Lenz’ selbst zugleich fragwürdig und innovativ zeigt, so scheint sich auch seine Persönlichkeit einem plan interpretierenden Zugriff immer wieder zu entziehen. Die vorliegende Untersuchung unternimmt eine interdisziplinäre Betrachtung, welche sich an der aktuellen Version des Standardwerks Psychiatrischer Diagnostik, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV), orientiert. Dieses erstmals für Jacob Lenz in Anschlag gebrachte Verfahren wird schließlich in einem zweiten Schritt dahingehend erweitert, als dass diese diagnostische Systematik ergänzend ein kulturanthropologischer Interpretationsansatz angedacht ist. Er verbindet die verschiedenen Hypothesen auf diesem Gebiet mit epochalen Topoi und öffnet sie damit wieder bewusst einer in klassischem Sinne historisch-hermeneutischen Fragestruktur.