Kannibalische Katharsis
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Die Figur des Kannibalen erlebt gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch in den künstlerischen Medien – insbesondere in den populären Horror- und Thriller-Genres – eine außergewöhnliche Konjunktur. Der Kannibale erlangt in den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens geradezu den Status einer kulturellen Ikone. In der Wahrnehmung dieser Ikone kreuzen sich noch einmal die beiden gegensätzlichen Traditionslinien, die den europäischen Diskurs über die Anthropophagie seit Jahrhunderten bestimmen – die ethnozentrische Bestialisierung des Kannibalen und seine kulturkritische Idealisierung. Doch indem sie sich kreuzen, neutralisieren sie sich gegenseitig: Die der Kannibalen-Figuration herkömmlicherweise zugeschriebenen Bedeutungen unterliegen einer nachhaltigen Erosion. Die Gestalt des Kannibalen wird im Zuge dieser Erosion ästhetisiert; das kritische Potential der Metapher verflüchtigt sich. Der anthropophagische Akt gewinnt das dubiose Ansehen eines kathartischen Vorgangs – einer gewaltsamen, aber heilsamen Reinigung, welche die Gesellschaft von vermeintlich fremden und schädlichen Elementen befreit. Der Kannibalismus wird zum Insignium einer Kultur, die sich offen zu ihren unersättlichen Begierden bekennt und sich eben dadurch von aller , Schuld‘ und allem , Schmutz‘ reinigen zu können glaubt.