Poetik und Massenpsychologie
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Weshalb ist der Ödipuskomplex nach einem tragischen Helden benannt? Weshalb bezeichnet Freud die Psychoanalyse als ein 'kathartisches Verfahren'? Und was hat es mit den zahlreichen literarischen Zitaten in seinen Schriften auf sich? Wer diese Fragen zu beantworten sucht, bewegt sich in einem Feld jenseits der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Es geht dann nicht um Freudsche Interpretationen von Dichtung, sondern um den Einfluss der Dichtung im Werk Freuds. Dabei ist allerdings das seit Lacan etablierte Paradigma vom 'tragischen' Charakter der Psychoanalyse zu hinterfragen. Gerade am Beispiel der klassischen Tragödie zeigt sich, dass Freuds Verhältnis zur Dichtung höchst ambivalent war. Von der 'Traumdeutung' (1900) über 'Totem und Tabu' (1912/13) bis zu 'Massenpsychologie und Ich-Analyse' (1921) lässt sich eine langjährige Beschäftigung verfolgen, in deren Zuge Freud sich von der mit Sophokles und Aristoteles verbundenen Tradition distanziert und eine radikale Re-Lektüre der alten Texte entwickelt. Wenn er sich dabei u. a. mit Shakespeare, Lessing, Schiller, Hebbel und Nietzsche auseinandersetzt, so werden die Konturen einer literarischen Vorgeschichte erkenntlich, aus der die Psychoanalyse hervorgeht und an der sie sich abarbeitet.