Wilde Archäologien
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Das 20. Jahrhundert war archäologisch, nicht historisch. Ein flüchtiger Blick auf die innovativsten Projekte in Philosophie und Psychologie, Epistemologie und Medientheorie, Ästhetik und Kunst legt die Diagnose nahe, dass im letzten Jahrhundert ein geheimer Wechsel von historischen zu archäologischen Leitvorstellungen stattgefunden hat. Prominente Autoren von Kant bis Kittler und von Freud bis Foucault experimentierten mit einem neuen Denken der Zeitlichkeit: Zu den bekannteren dieser Projekte zählen Sigmund Freuds 'Archäologie der Seele' (1896–1937), Walter Benjamins 'Archäologie der Moderne' (1928–1939), und natürlich Michel Foucaults Archäologie des Wissens (1969). Historisch eingerahmt werden sie von Immanuel Kants 'Archäologie der Metaphysik' von 1793 sowie von Friedrich Kittlers 'Archäologie der Medien' zweihundert Jahre später. Das 20. Jahrhundert war in seinen großen theoriehistorischen Momenten archäologisch, die Archäologie ist eine geheime Leitwissenschaft des vergangenen Jahrhunderts. Von diesem Paradigmenwechsel hat insbesondere die Kulturwissenschaft profitiert; gerade die aktuelle Karriere der kulturtechnischen Forschung verdankt sich der Verwendung archäologischer statt historischer Modelle: Ihre Mobilisierung von Techniken und Medien, Materialitäten und Empirien, Diskursen und Epistemen wurde durch die archäologische Reformulierung ihrer Methoden und Begriffe ermöglicht. Diverse neue Themen der Kulturwissenschaft – beispielsweise Medien und Archiv, Raum und Gedächtnis – sind nicht zufällig archäologischer Provenienz. Aber auch die neue Nähe zwischen Geistes- und Naturwissenschaften verdankt sich dem archäologischen Eifer eines Jahrhunderts. Schließlich bedienten sich die archäologischen Avantgarden mit der klassischen Archäologie nicht zufällig bei einer Disziplin, die die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, Text und Technik immer schon überschritten hatte. Der vorliegende Band schreibt eine Theoriegeschichte nach dem cultural turn und stellt den kulturwissenschaftlichen Aufbruch auf ein breites theoriehistorisches Fundament. Während eine theoretische Begründung der Kulturwissenschaft bislang ausgeblieben ist, legt er eine Theorie der Kulturwissenschaft vor, die auf ihre Revision geisteswissenschaftlicher Methoden reagiert. Durch die Relektüre der Klassiker – und insbesondere durch ihre Zurückfaltung auf die Disziplin- und Diskursgeschichte der klassischen Archäologie – wird die Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts mit einem neuen Akzent versehen und auf die Höhe der kulturwissenschaftlichen Herausforderung gebracht.