Demokratie im Umbruch
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In den Perestroika-Jahren von 1985-1991 entstand in der Sowjetunion eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppierungen verschiedenster ideologischer Ausrichtungen, die angesichts der multiplen Systemkrisen über Alternativen sowohl zum östlichen Staatssozialismus als auch zum westlichen Realkapitalismus nachdachten. Die ebenso große Anzahl an alternativen demokratischen Ideen, die unter Schlagwörtern wie Marktsozialismus, Volkskapitalismus, Computerdemokratie, zivilgesellschaftlicher Parlamentarismus, selbstverwalteter Ökosozialismus und imaginierte liberale Demokratie zusammengefasst werden können, zeugt vor allem davon, dass es in den Köpfen der Menschen zur Zeit der Perestroika weitaus mehr als nur die eine unvermeidliche Option sich in die erfolgreiche kapitalistische Hauptrichtung (Kornai) einzuordnen gab. Die diversen Visionen dieser Zeit wurden jedoch durch das Paradigma des siegreichen Kapitalismus und eines vermeintlichen „Endes der Geschichte“ (Fukuyama) von den Sozialwissenschaften weitgehend ignoriert und gerieten in Vergessenheit. Hans Asenbaum eröffnet durch die Erschließung bisher unerforschten Materials eine neue Perspektive auf ein kleines Stückchen Geschichte rapiden Wandels. Er analysiert Originaldokumente, wie Gründungspapiere, Parteiprogramme und Reformdeklarationen heterogener Gruppierungen der sogenannten „Informellenbewegung“ und lässt in sechzehn Interviews ZeitzeugInnen wie Boris Kagarlitsky und Alexander Buzgalin zu Wort kommen, die zum Teil auch heute noch in Opposition zum Herrschaftssystem aktiv sind. Die vielfältigen demokratischen Alternativen diskutiert Asenbaum vor dem Hintergrund aktueller Debatten über die Krise der westlichen, liberalen Demokratie (Entdemokratisierung, Postdemokratie) und ihrer Alternativen, um Antworten auf heutige Fragen zu finden. Dabei folgt er einem Verständnis, das unterdrückte, verdrängte und disqualifizierte Theorien von den Wissensperipherien in den Fokus rückt und insistiert, dass Erkenntnisse fernab elitärer, akademischer Zentren zu einer tiefgehenden Ergründung von Vergangenheit und Gegenwart beitragen können. Diesem Ansatz der „Theorie von unten“ entsprechend, wird auch eine Perspektive auf die historischen Prozesse der Perestroika eingenommen, die Bevölkerung, Gesellschaft und Zivilgesellschaft als Triebkräfte des politischen Wandels identifiziert. Für die Postsozialismusforschung, die mitunter nach einem positiven Erbe des Staatssozialismus fragt, werfen Asenbaums Darlegungen ein neues Licht auf die üblicherweise als passiv und konservativ beschriebene russische Bevölkerung und erklären die Informellenbewegung als Wurzel der heutigen aktiven Zivilgesellschaft. Überdies verweisen sie auf eine Konvergenz von Demokratie und Sozialismus in den untersuchten zivilgesellschaftlichen Diskursen und stellen damit das Grundprinzip der Egalität in den Vordergrund, das durch die (neo)liberale Fixierung auf ökonomische Freiheit oft außer Acht gelassen wird.