Ich war Staatsfeind Nr. 1
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Der rotweiß markierte Schlagbaum hob sich wie in Zeitlupe, als ein grau uniformierter Grenzsoldat das kastenähnliche Endstück nach unten drückte. Seine Maschinenpistole schlug beim Bücken dagegen. Es gab ein metallisches Geräusch. Ich fuhr in die 500-m-Sperrzone ein, das kontrollierte Vorfeld zur eigentlichen Grenze. Boizenburg lag unmittelbar vor mir, nur 50 Kilometer von Hamburg entfernt. Mein kleiner, grauer, westdeutscher Ausweis hatte mich über das erste Hindernis gebracht. Ich traute ihm magische Kräfte zu. Würde er auch den zweiten Schlagbaum öffnen, an der eigentlichen Grenze der DDR? Vorsichtig gab ich Gas. „Denk dran“, meldete sich Charly, „noch bist du in der Zone.“ - "Bis hierher ging's jedenfalls gut„, antwortete ich und starrte angestrengt auf die Straße. Er lachte: “Das erinnert mich an den Mann, der aus dem 14. Stock eines Hochhauses springt. Als er am 7. vorbeifliegt, meint er, bis hierher ging's gut!„ - “Laß deine dämlichen Witze, Charly„, zischte ich. Mir war nicht nach Spaßen zumute. Alles in mir war angespannt. “Was ist mit den Grenzern hinter uns?„ “Niemand zu sehen.„ “Glaubst du, es klappt?„ “Wie ich schon sagte, bis hierher ging's gut.„ “Was wirst du tun, wenn ich drüben bin?„ “Ich werde mit dem Wartburg bis zur Brücke fahren, wo wir deine Papiere versteckt haben, unterwegs Marita aufnehmen und nach Berlin zurückfahren.„ Ich beobachtete Charly aus den Augenwinkeln. Er schwitzte. Warum er, dachte ich noch, ich bin es doch, der hier flüchtet. - “Du mußt konsequent bleiben„, unterbrach er meine Gedanken. “Die werden dich an der Grenze in die Mangel nehmen.„ - “Klar, kannst dich auf mich verlassen, deswegen sind wir doch hier.„ Charly hatte mich zu diesem Schritt ermutigt. Er muß wieder zurück und wäre doch gerne mitgekommen, wie auch Marita, der der Abschied schwer wurde. Ich wischte den Gedanken an sie weg. Jetzt bloß nicht daran denken. Bloß keine Gefühle. Es gibt kein Zurück mehr, so oder so. Dieser 22. Mai sollte die Entscheidung bringen. Der NVA-Soldat an der Vorfeldgrenze hatte nur kurz in meinen westdeutschen Ausweis geblickt und sich die Erklärung Charlys angehört: “Mein Freund aus dem Westen war zum Deutschlandtreffen in der DDR. Jetzt fährt er zurück. Ich begleite ihn nur bis zur Grenze.„ Warum hatte er nicht gefragt, wieso ich das DDR-Auto fahre, und auch nicht, wie Charly zu einem westdeutschen Freund kommt? “Scheiße, Charly! Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache!„ “Werd jetzt nicht nervös und fahr langsam. Hinter der Kurve kannst du anhalten, und wir wechseln die Plätze. Alles geht nach Plan. Hast du den dämlichen Sachsen gesehen? Der checkt doch nichts." Es war Mai, die Luft war warm, und auf den Feldern ringsum stand grün das frühe Korn. Mir wurde zunehmend heißer, je näher wir der eigentlichen Grenze kamen.