Die Zukunft im Alltagsdenken
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Wie wirkten sich die weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche in den 1990er Jahren auf fünf Schlüsselbranchen der Schweizer Wirtschaft auf die Uhrenindustrie, den Bankensektor, die chemisch-pharmazeutische Industrie, den Tourismus und die Landwirtschaft aus? Im Zentrum des Buches stehen aber nicht theoretische Einschätzungen dieser Entwicklungen, sondern die Deutungen der in diesen Branchen verankerten Personen. Den Einstieg dazu haben die Autoren über einen in der jeweiligen Branche tätigen, etwa 50- bis 60jährigen Familienvater gesucht, der im Idealfall zwei Kinder im Erwachsenenalter hat. Anschließend wurde mit den Familienangehörigen separat ein offenes Interview über ihre Biographie und ihren Beruf sowie ihre Ansichten über die Zukunft der jeweiligen Branche, aber auch der Schweiz geführt. Vorgelegt wird eine Typologie von alltagsweltlichen Zukunftsszenarien, die auf der sequenzanalytischen Auswertung von insgesamt 80 nicht-standardisierten Interviews nach dem Verfahren der objektiven Hermeneutik beruht. Für die Darstellung der Forschungsergebnisse wurde die Form des soziologischen Porträts gewählt, wobei jeweils differenziert erörtert wird, inwieweit sich das durch den beschriebenen Fall repräsentierte Szenario einer „Trägerschicht“ zuordnen lässt und aus welchen kollektiven Mustern der Wirklichkeitsdeutung es sich nährt. Allgemein hat sich gezeigt, dass für ein Verstehen individueller Denkweisen dem familialen und sozialmoralischen Herkunftsmilieu eine zentrale Bedeutung zukommt. Ebenfalls von strukturierendem Gewicht sind die Handlungslogiken und ArbeitSethiken in den jeweiligen beruflichen Handlungsfeldern sowie die Segregationslinien zwischen den Geschlechtern. Die Typologie von Zukunftsszenarien verdeutlicht, dass alltagsweltliche Vorstellungen mehr sind als ein loses Gefüge vereinzelter und beliebig zusammengewürfelter Meinungen, Ansichten und Spekulationen. Die Vorgehensweise lehnt sich an die Wissenssoziologie Karl Mannheims an. Sie lässt erkennen, dass alltagsweltliche Reflexionen eine hohe paradigmatische Dichte und Kohärenz aufweisen können und dass sie sich jeweils spezifischen kulturellen Traditionen der Wirklichkeitsdeutung und Wissensproduktion zuordnen lassen. Die rekonstruierten Szenarien zeigen, wie tief der Schrecken angesichts einer häufig als allumfassend erachteten Ökonomisierung sitzt. Während einige den Konsequenzen der Globalisierung pragmatisch begegnen, sehen andere sich von unheilvollen Entwicklungen überrollt, durch welche die gemeinschaftlichen Fundamente der Gesellschaft zerstört werden. Durch die präzise Rekonstruktion der Bedeutung von sozialen Lagen und Herkunftskonstellationen für individuelle Zukunftsvorstellungen liefert das Buch zugleich einen materialen Beitrag zur Kritik der Individualisierungsthese. Die Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und am Institut für Soziologie der Universität Bern durchgeführt.