Im Moralapostolat
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Haben sich die Nebelkerzen nach dem Finale der Luther dekade erst einmal verflüchtigt, sieht man klarer: Um die Theologie des Reformators wird ein großer Bogen gemacht. Ganz bewußt. Denn hier betritt man vermintes Gelände. Die selbsternannte Kirche der Freiheit steht schützend vor Errungenschaften, Mündigkeit, Pluralität und mag die dogmatischen Geschäftsgrundlagen, die der Augustinermönch der westlichen Welt vermacht hat, nur noch ungern thematisieren. Horst G. Herrmann hat diese Grundlagen gesichtet und beschreibt eine folgenreiche mentale und dogmatische Verschiebung: Ein schmerzinduzierendes Christentum (Schmerz über die objektive Verfehlung einer Nachfolge Christi) wird in ein angstverbreitendes, egozentriertes, reformatorisches Christentum überführt. Mit Luthers Großmachen der Sünde und der Angst steht nun die Frage nach Einschluß oder Ausschluß, nach Himmel oder Hölle dringlicher denn je auf der Tagesordnung, während die imitatio Christi der Hermeneutik des Verdachts ausgeliefert wird. Die Reformation markiert einen eschatologisch aufgeladenen moral turn im Westen; die Verabschiedung einer Tugendethik durch uneingestandene Moralistik. Aus einem Sollen wird ein Müssen; ein Glaubenmüssen, ein Lesenmüssen, ein Begnadetseinmüssen. Aus einem (Pilger-) Weg, der einen hält, während man ihn beschreitet, wird der angstvolle Blick auf ein Ziel, das man keinesfalls verfehlen darf. Das Großmachen von Erbsünden aller Art und der Wunsch nach säkularisierter Heilsgewißheit, nach dem notorisch guten Gewissen, sind zur pathogenen Matrix des Westens geworden. Wir alle - gläubig oder ungläubig - sind Menschen mit Reformationshintergrund und teilen dasselbe Schicksal: die postreformatorische Belastungsstörung.
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