Kursbuch 216
Passt euch an!






Passt euch an!
Eine Spurensuche
Keine neue Nacherzählung, sondern eine Frage, nämlich die, ob es „1968“ gegeben hat, ist Gegenstand dieses Essays. Natürlich hat es das Jahr 1968 gegeben. So wie auch die damit verknüpfte Studentenbewegung stattgefunden hat. Aber war „1968“ wirklich der Umschlagpunkt, der eine verkrustete, unbewegliche Welt in eine offene Zukunft geführt hat? Jedenfalls ist der Mythos „1968“ ein Erzählanlass, dem auf den Grund gegangen werden muss. Denn was für individuelle Biografien gilt – dass sie sich eingängiger erzählen lassen anhand eines kritischen, alles ändernden Ereignisses –, gilt auch für die Nacherzählung von gesellschaftlichen Entwicklungen: Wenn es einen Kairos gibt, den entscheidenden Moment, durch den das chronologische Nacheinander beeinflussbar ist, lässt sich – im Nachhinein – alles erklären. Da aber auch solche vermeintlichen Plötzlichkeiten nicht einfach vom Himmel fallen, sind auch sie erklärungsbedürftig. Zu klären ist, welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Veränderungen „1968“ möglich gemacht haben. Ob „1968“ Ursache oder Effekt von Veränderungen war. Und was davon geblieben ist.
Ach, süße Heimat – du bist immer nur interessant gewesen, als du längst verloren warst. Und als es dich gab, hat man nicht darüber reden müssen. Dass sie alle wieder über dich reden, müsste also ein Hinweis darauf sein, dass du gerade sehr fern bist. Aber am meisten Heimat war stets in der Ferne – für die wandernden Gesellen oder die Historiker einer vermeintlichen Ordnung, die es nur in der Unordnung gibt, und für die fern der Heimat, die erst dort imaginieren, wo sie herkommen. Und doch: Dass sie dich wieder beschwören, muss doch etwas bedeuten. Wir widmen dir deshalb ein Kursbuch, weil irgendwas dran sein muss, dass sie alle danach suchen, was du nie warst, aber wonach es offensichtlich irgendwie drängt – und nicht nur die, die dich romantisch aufladen, sondern auch die, die sich fragen, wie lebbar diese Welt eigentlich ist und sein könnte. Und für wen sie wo Heimat sein kann. Oder sein soll. Oder sein will. Oder sein muss. Ach, süße Heimat!
Armin Nassehi ist viel unterwegs. Auf Bahnhöfen und Flughäfen, in Hörsälen und bei Vorträgen auf Tagungen und Konferenzen. In seinen wunderbaren soziologischen Storys geht er der Frage Wie gehen die Menschen um mit der Perspektivenvielfalt der modernen Welt? Nassehi ist Flaneur, Nomade, reisender Beobachter. Im Alltagsdickicht deutscher Wirklichkeiten sucht er begehbare Pfade, die immer schwerer auffindbar sind. Er entlarvt nicht von oben herab, aber er schärft den Blick und öffnet die Augen für die Besonderheit und Merkwürdigkeit des scheinbar Normalen und Banalen. Bildlich in einem Taxi reist Nassehi durch die Gesellschaft und stürzt sich ins Getümmel produktiver Missver ständnisse, paradoxer Erkenntnisfährten und rhetorischer Sackgassen.
Wie funktioniert eigentlich die Soziologie? Vor welchem Publikum bewährt sie sich? Wie konstruiert sie ihren Gegenstand? Und welche Probleme löst sie, die wir ohne sie nicht hätten? Diese Fragen zielen auf die Möglichkeit soziologischer Theorie und Forschung überhaupt. Die Antwort, die hier gegeben wird, besteht weder in einer Geschichte noch in einer systematischen Darstellung der Soziologie. Es geht vielmehr um eine Kritik der soziologischen Vernunft. Das zentrale Verfahren ist daher das der klassischen (Erkenntnis-)Kritik – einer Kritik, die die Bedingungen auslotet, mit denen sich soziologisches Denken möglich macht. Neben einer Kritik der reinen Soziologie geht es auch um eine Kritik der handelnden, der authentischen, der operativen und der gesellschaftlichen Vernunft. Diese Rekonstruktion kann keine neutrale Beobachtung des Faches sein, sondern führt zu einem Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten. Es soll den veränderten Bedingungen einer Gesellschaft Rechnung tragen, die selbst nicht mehr an die Konstruktionen jener soziologischen Vernunft glaubt, welche das klassische Bild der (bürgerlichen) Gesellschaft und ihrer soziologischen Weiterentwicklung gezeichnet hatte.
Alles, was geschieht, geschieht in einer Gegenwart. Und alles, was geschieht, geschieht in einer Gesellschaft. Zwischen diesen beiden Sätzen herrscht eine Spannung. Denn alles, was geschieht, geschieht hier und jetzt und zugleich im Kontext von Abwesendem und Unsichtbarem, es wird in einer Gesellschaft räumlich und zeitlich transzendiert. Genau diese Erfahrung ist es, die das Besondere der modernen Gesellschaft ausmacht. Die Soziologie hat die Spannung zwischen Gegenwart und Gesellschaft stets aufzulösen versucht und dabei den Akzent entweder auf die Gegenwart oder auf die Gesellschaft gelegt. Mit einem Konzept einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ unternimmt Armin Nassehi den Versuch, diese Spannung praxis-, system- und gesellschaftstheoretisch aufzulösen.
Musikbox
Musikboxen und Jukeboxen sind die Wundertüten des Musikalischen. Darin schlummern Standardhits, aber auch unbekannte Fundstücke und andere Juwelen. Die Kursbuch-Musikbox erscheint inmitten der Corona-Pandemie. Sie ist Hitparade, Essay-Pop, akademische Eigenkomposition und Eintauchen in schillernde Musikgeschichte(n). Ein Wurlitzer musikalischer Vielfalt und Differenz. Darin findet man Lockdown-Musikempfehlungen von Robert Habeck bis Ulrike Draesner, von Sibylle Lewitscharoff bis Jagoda Marinić, von Gustav Seibt bis Dmitrij Kapitelman. Ebenso Streifzüge durch Hitlisten, digitale Musik, durch das Symphonische und die Volksmusik. Wir treffen Gioachino Rossini beim Komponieren, beobachten Dirigentinnen in einer Männerdomäne sowie einen Rapper bei einem Schreibexperiment über Hiphop mit einem Universitätsprofessor. Ungewöhnliche Perspektiven, Sichtachsen und Tonlagen. Zum Klingen gebracht im Kursbuch 205: Musikbox.
Theorie der digitalen Gesellschaft
Der Soziologe Armin Nassehi präsentiert in seiner neuen Gesellschaftstheorie eine differenzierte Sicht auf die Digitalisierung, die oft als revolutionär wahrgenommen wird. Er argumentiert, dass die digitale Technik nicht nur eine disruptive Kraft ist, sondern vielmehr eine ausgeklügelte Lösung für ein seit langem bestehendes Problem in modernen Gesellschaften: den Umgang mit unsichtbaren Mustern. Seit dem 19. Jahrhundert werden in funktional differenzierten Gesellschaften statistische Technologien eingesetzt, um menschliches Verhalten zu erkennen und zu regulieren. Nassehi zeigt, dass die Digitalisierung häufig als Störung und Herausforderung erlebt wird, die gewohnte Routinen infrage stellt. Er versucht, die digitale Technik innerhalb der Struktur der modernen Gesellschaft zu verankern und entwickelt die These, dass gesellschaftliche Regelmäßigkeiten und Muster die Grundlage für das ökonomische, politische und wissenschaftliche Potenzial der Digitalisierung bilden. Dadurch wird die Gesellschaft durch die Digitalisierung neu entdeckt. Nassehis Ansatz bietet eine unerwartete Perspektive auf die digitale Transformation und fordert dazu auf, die zugrunde liegenden Strukturen und Muster zu verstehen, die unser Leben prägen.
Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit Neuauflage mit einem Beitrag ""Gegenwarten""
Man kann die moderne Gesellschaft unter sachlichen Gesichtspunkten beobachten – und stößt auf die Differenzierung von Funktionen. Man kann sie unter sozialen Gesichtspunkten in den Blick nehmen – und stößt auf Schichtung, auf Kollektivitäten und Distributionsstrukturen. Man kann sie auch auf räumliche Dimensionen hin untersuchen – und stößt dann auf wechselseitige Beobachtungsverhältnisse von Orten und Perspektiven. In diesem „modernen Klassiker“ der Systemtheorie wird die moderne Gesellschaft im Hinblick auf ihre zeitliche Ordnung und Dynamik hin abgeklopft. Man stößt dann auf die Gleichzeitigkeit all der zuvor genannten Dimensionen: auf die Gleichzeitigkeit der Funktionen, Schichten, Kollektivitäten und Räume und auf das Problem ihrer Synchronisation. Neben einer sozialtheoretischen Aufarbeitung einer soziologischen Theorie der Zeit wird in dieser Untersuchung auch ein Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit vorgelegt. Diese Neuauflage wird um einen aktuellen Beitrag des Autors ergänzt, in dem Ertrag und aktuelle Bedeutung der Untersuchung fokussierend auf den Begriff gebracht werden.
Die moderne Gesellschaft ist in individualisierte Lebensformen zerfallen, geprägt von Pluralität und Perspektivität. Die Autoren präsentieren in 14 Kapiteln verschiedene soziologische Begriffe wie 'Postmoderne Gesellschaft' und 'multikulturelle Gesellschaft', um die Vielfalt der heutigen Gesellschaft zu verdeutlichen.