Zelt, Schiff und Wohnung
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Im Kirchenbau nach 1950 wurde vieles erprobt; alles schien erlaubt. Die daraus resultierende Formenvielfalt ist Ausdruck des Versuches, unterschiedlichen Versammlungsarten architektonisch Gestalt zu geben. Insbesondere die Idee der „pilgernden Kirche“ findet in einer skeptischen Nachkriegszeit ihren Niederschlag in anschaulichen biblischen Denkbildern wie denen des Zeltes, der Arche oder des Schiffes. Sie wurde gestützt durch eine in jener Zeit weit verbreitete Formulierung des zeitkritischen Essayisten Hans Egon Holthusen. Er prägte den Begriff des „Unbehausten Menschen“, der das Gefühl der geistigen Heimat- und Orientierungslosigkeit, von Substanz- und Traditionsverlust in sich trug. Obgleich vom Autor in einen anderen Kontext gestellt – denn Holthusen überschrieb damit 1951 einen Essayband über ausgewählte Autoren der modernen Literatur –, wurde diese Formulierung zu einem Schlagwort für eine ganze Generation: als Lehnbegriff einer „Bewusstseinslage“ von Vergangenheitsbewältigung, Gegenwartsunsicherheit und Zukunftshoffnung. Neben die „pilgernde Kirche“ trat als grundlegend für den Kirchenbau in den sechziger Jahren die „Kirche für andere“ – eine Formulierung, die den Gefängnisbriefen des Theologen Dietrich Bonhoeffer aus dem Jahre 1944 entnommen ist. Von dieser Wortprägung wurde die Entsakralisierungsdebatte in den siebziger Jahren ebenso getragen wie von den Emanzipationsideen der 68er-Bewegung. Deren Forderungen führten zur Errichtung moderner, polyfunktionaler Gemeindezentren, in denen der Kirchenraum in den Hintergrund trat. Im Extremfall gab es nur noch eine vorübergehend als Kirchenraum genutzte Mehrzweckhalle. Wenngleich nachträglich als „Kopfgeburt“ in Misskredit geraten, bildete das gestaltprofanierte Gemeindezentrum einen wichtigen Abschnitt in der Entwicklung der Kirchenbaukunst und gab Anlass zur eingehenden Reflexion über das kirchliche Selbstverständnis sowie über Sinn und Bedeutung kirchlicher Architektur in einer säkularisierten Gesellschaft. Die „Kirche für andere“ war zumeist kleineren Maßstabs und orientiert sich formal an der Profanarchitektur, genauer gesagt: dem Wohnungsbau. Die Autorin analysiert die bildhaft-assoziativen Bedeutungsqualitäten im Kirchenbau der Nachkriegsmoderne der fünfziger bis siebziger Jahre vor dem Hintergrund der sich wandelnden theologischen Leitbilder. Dabei stützt sie sich auf eine Fülle von zumeist sehr qualitätvollen Beispielen, die in dieser Untersuchung erstmals systematischer in einen kulturgeschichtlichen Deutungshorizont eingeordnet werden.
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