Der Zopf des Fräulein Li
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Viel hat sich verändert in diesen Ländern Südostasiens, seit ich sie vom Herbst 1980 bis Frühjahr 1981 bereist habe. Der Einfluss des Fernsehens, überhaupt die technischen Fortschritte, die Globalisierung und Motorisierung, die noch weiter klaffende Schere zwischen Reich und Arm, der ausufernde Tourismus, die Umweltzerstörung und grundlegende politische Umwälzungen haben das bewirkt. Gute Reiseführer und künstlerisch gestaltete Bildbände von Ländern wie Indien, China, Indonesien, Thailand und Nepal gibt es in Hülle und Fülle. Ich will mit diesem Buch keinen weiteren hinzufügen. Es sind persönliche Erlebnisse eines Zauberkünstlers, der Monate lang in diesen Ländern aufgetreten ist, mit seinem ganz verschiedenen Publikum, aber auch Begegnungen mit einzelnen Menschen, die ihn amüsiert, beeindruckt, begeistert oder zum Nachdenken gebracht haben. Mit meiner „dritten Muttersprache“, der Internacia Lingvo Esperanto, fand ich überall Kontakt. Ich habe erlebt, dass die Zauberkunst, wenn sie fröhlich und mit Respekt vor dem Zuschauer geboten wird, Türen und Herzen öffnen kann, und zwar überall, wo die „Familie Mensch“ zu Hause ist. Der Zopf des Fräulein Li In Guilin hatte ich endlich mal Glück: auf dem nächtlichen Bahnsteig empfing mich ein charmantes Fräulein Li mit einem langen schwarzen Zopf bis zu den Knien, begrüßte mich mit einem silberhellen „Gute Nacht!“ und stellte sich mir als meine ständige Begleiterin für die nächsten Tage vor. In Guilin werde ich mich also führen lassen. Um 19.00 Uhr kommt mein Fräulein Morgenröte, so heißt sie auf Deutsch. Sie hat ein Päckchen dabei mit einem rosa Band umwunden. „Herr Trixini, sie waren mir so sympathisch, ich möchte Ihnen ein Geschenk machen, das ich höchstens alle drei bis vier Jahre mache - wenn ich es überhaupt mache.“ Und ich packe ihren zuletzt abgeschnittenen schwarzen Zopf aus, den sie aufbewahrt hat. Eine hohe Ehre! Ob ich mir später mal ein Toupet davon machen lasse? Heute war also die lange Bootsfahrt auf dem Li-Fluss. Den Namen Li gibt es millionenmal in China. Aber mein Fräulein Li gibt es nur einmal.