Geburt
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Mechtilde Lichnowsky war nicht nur eine langjährige Freundin von Karl Kraus, sondern eine sprachmächtige Erzählerin, die es wiederzuentdecken gilt. Der Roman 'Geburt' erschien 1921 und erlebte bis 1926 sieben Auflagen. Das Buch porträtiert eine Reihe von eigenwilligen Charakteren, an denen sich ein heranwachsender junger Mann zu orientieren versucht. Mit großer Unbekümmertheit und ohne theoretisches Getöse sprengt Lichnowsky die Grenzen der Romanstruktur und stellt das Geschlechterverhältnis radikal in Frage. 'Wer teilte die Menschheit in Geschlechter?' fragt sich die weibliche Hauptfigur, die mit scharfem Blick die anerzogenen Verhaltensschleifen ringsum beobachtet. Schonungslos ist ihr Urteil dabei in beiden Richtungen, soziale Gesten der Macht ortet sie in patriarchaler Selbstgewissheit genauso wie in koketter Hilflosigkeit. Was den Roman auszeichnet, ist der genaue und lebendige Blick auf das Verhalten der Menschen, die Sinnlichkeit der Sprache und das freie Flottieren der Perspektive. Es ist ein ganz eigener Ton, der aus der großen sprachlichen Präzision und einer intensiven Bildsprache entsteht. Die Modernität der Erzählweise Mechtilde Lichnowskys erkannten schon Zeitgenossen wie Oskar Loerke oder Kurt Tucholsky, der in der 'Schaubühne' schrieb: 'Außerdem aber kann sie schreiben. Und denken. Und sehen. Und liebt das Leben. und ist doch keinen Augenblick sentimental. Sondern sehr klug und liebenswürdig, und läßt immer soviel ungesagt, wie nötig ist, um einen Kulturmenschen noch interessiert zu erhalten.' Lichnowskys Werk umfasst an die zwanzig Bücher, die genremäßig eine erstaunliche Bandbreite abdecken und oft Gattungsgrenzen sprengen; sie schrieb u. a. drei Theaterstücke, vier Romane und mehrere essayistische Prosabücher.