Voller Fehl
Edmond Jabès, erinnert und wiedergelesen
Rosmarie Waldrop ist eine zeitgenössische amerikanische Dichterin, Übersetzerin und Verlegerin, deren Werk sich durch einen experimentellen Ansatz in Sprache und Form auszeichnet. Sie erforscht die Grenzen zwischen Bedeutung und Klang und widmet sich oft Themen wie Erinnerung, Geschichte und persönlicher Identität. Waldrop nutzt Fragmentierung und unkonventionelle Syntax, um eine einzigartige literarische Landschaft zu schaffen. Durch ihre Schriften und ihre Tätigkeit als Mitherausgeberin und Verlegerin von Burning Deck Press hat sie die Avantgarde- und experimentelle Poesie maßgeblich beeinflusst.






Edmond Jabès, erinnert und wiedergelesen
«Das Proben der Symptome» zeigt Rosmarie Waldrop unvergleichlich fein und konzentriert in treffsicheren Sätzen. Ihre Kunst schenkt Motive und Wendungen, die das Herz wie mit dem Schraubenzieher umdrehen, zugleich vertraut und fremdelnd mit Welt wie mit Jenseits. «Alles Meta- physische,» schreibt sie, «lebt in der Grammatik», die Grammatik aber lebt im Körper, der Körper im Geist. Diese ménage à trois portraitiert sie hier in der guise von Symptomen, situiert in ihrem Leben, in Miniaturen, deren Statements alle Scharniere sind, Türen, Stimmen; wo die Wirklichkeit landen kann, mitten im Realismus, mitten in der Möglichkeit, mitten im gewissen, zeitoffenen Tod.
Hätten Josef und Frederika Seifert mal besser nicht geheiratet!? Der Ort ist Kitzingen am Main, es sind die späten Zwanziger. Josef ist Kriegsveteran und Lehrer, sehr ins Metaphysische entrückt, Frederika rasend frustrierte Sängerin, rasend frustrierte femme fatale, die, unfähig zu den spirituellen Sublimationen ihres Mannes, bereits wenige Wochen nach der Trauung eine Affäre mit seinem besten Freund beginnt. Ist dieser Seitensprung an allem schuld, was folgen wird? Das fragt – ein halbes Jahrhundert später – Lucy, die älteste Tochter, in Briefen an ihre Schwester (oder ist es ihre Halbschwester?). Hätte ihre Mutter nur ein Machtwort sprechen müssen, was die Musik Richard Wagners angeht, damit sich alles ganz anders entwickelt? Und hat der Umstand, dass Frederikas Liebhaber Jude war, Josefs Faszination für den Nationalsozialismus weiter entfacht? Rosmarie Waldrop hat einen agilen, feinsinnigen und derben Roman geschrieben. Über eine marode Familie im anschwellenden Nationalsozialismus. Über Sehnsüchte, Enttäuschungen und Verrat. Über kleine Ursachen und große Wirkungen. Und über die beharrliche Ambivalenz einer nicht wirklich zu bewältigenden Vergangenheit.
Der Zyklus von Prosagedichten, 2003 erschienen in dem Band „Blindsight“, geht aus von Sätzen oder von grammatikalischen Satzmustern von Friedrich Hölderlin, die, nach ihrer Auswanderung in die amerikanische Sprache, durch die Übersetzung von Thomas Schestag wieder ihren Weg zurück in die deutsche Sprache finden. „Was tun“, schreibt Thomas auf dem Umschlag zu dieser zweisprachigen Ausgabe, „Auswandernde der Sprache, die sie mitnehmen. Die sie mitnimmt. Einwandernd. An. Wie nehmen sie, wie nimmt sie, Sprache wahr. Wie. Genau. Was gehört, im Augenblick des Aufbruchs, wem. Migranten, Wörter, Wandersprachen. Die vielleicht dort, von wo sie ausgehn, mitgenommen, nur dem Anschein nach zuhause, eingeboren, angestammt, verwurzelt waren. Warten. Denn welches Wort, unter Wörtern, wäre keines, das aufbricht. Weglos. Unterwegs.“ Rosmarie Waldrop, 1935 in Deutschland geboren, ist 1958 nach Amerika ausgewandert, wo sie eine bekannte Autorin, Übersetzerin und Verlegerin wurde.
Von der Goldmünze mit dem Fürstenkopf über das Papiergeld bis hin zum digitalen Geldstrom heutiger Bezahlsysteme verläuft die Entwicklungslinie einer zunehmenden Entmaterialisierung des gesellschaftlichen Lebens. Auch von der Erfindung der Null und der Entdeckung des Fluchtpunkts in der Malerei führen ähnliche Linien in unsere zusehends durch 0 und I bestimmte Gegenwart. Diese Tendenz zum Abstrakten wird in Rosmarie Waldrops Buch poetisch untersucht, indem sie die von Brian Rotman beschriebenen Beobachtungen aus der Position einer Frau neu artikuliert – einer Frau, die ihren eigenen Körper ins Spiel bringt und mitbedenkt. Er ist der unhintergehbare Endpunkt des Abstrahierens, ein konkreter Körper, den es nach anderen Körpern verlangt. Es ist eine drängende, existentielle Frage, denn die Autorin verhandelt hier auch ihr eigenes Medium: 'sobald erst einmal die metapher ausgeschöpft ist, sozusagen ihre prägung verloren hat, funktioniert sie wie bloßes metall, nicht länger münze. sagt nietzsche. als ob es dasselbe wäre, ein buch zu greifen und seinen inhalt zu begreifen. es gegen meine stirn zu reiben, dass es hineingeht.' Waldrops poetische Sprache, sinnlich und abstrakt, schlägt aus dieser Engführung Funken, die irritieren und ein Feuerwerk an Denkanstößen bieten. Ein grandioser Text, der zugleich tut, was er verhandelt.